Es ist doch so: Die ersten vier Jahre gedeihen die Kinder so vor sich hin. Haben Interessen. Haben Talente. Werden größer. Manche schneller, manche langsamer. Können dies. Können das. Und haben Zeit.
Ja, ich weiß, dass mittlerweile auch schon früher verglichen wird. Ja, ich weiß, dass auch im Kleinkindalter schon Normtabellen unter Druck setzen. Ja, ich weiß, es herrscht immer früher die Angst, etwas an Entwicklungs- und Förderpotential zu versäumen. Ein Resultat unserer Leistungsgesellschaft. Und trotzdem ist das noch kein Vergleich zu dem, was kommt.
Denn plötzlich macht es rumms und die Tür zur Vorhöl... ähm Vorschule geht auf. Und plötzlich werden alle nervös. Die Eltern, die Kinderärztin/der Kinderarzt, der Kindergarten, die Großeltern, die Nachbarin, der alter Herr auf der Straße, der Postbote und ich könnte schwören, die Frau in der U-Bahn hat auch schon so komisch geguckt.
„Plötzlich läuft die Zeit davon. Und plötzlich wird sehr genau geschaut. “ -
Wie hält mein Kind denn da seinen Löffel? Wieso will es eigentlich nie auf Mauern balancieren? Müssten wir mehr malen? Wir schneiden auch irgendwie zu wenig aus. Jetzt noch schnell ein Musikinstrument lernen? Geht mein Kind abends nicht doch zu spät ins Bett? Nicht mal beim Vorlesen sitzt es ruhig. Sollten wir das üben? Und wo bringe ich in den paar verbleibenden Monaten denn noch das Seepferdchen unter?
Wenn es um die Zeit vor der Einschulung und die damit verbundene Vorbereitung geht, dann stehen Eltern ziemlich zwischen den Stühlen. Kinder auch. Dabei sollen sie doch lernen, möglichst lange drauf zu sitzen.
Und nun eine kleine Runde Nähkästchen. Mein Sohn steckt da jetzt auch drin. Plötzlich. Die Kinderärztin, bisher Frau Ruheinperson, wird ungeduldig. Weil mein Kind feinmotorisch, sagen wir mal, wirklich sehr bequem ist. Und das mit der Selbstständigkeit ist ja bei eher vorsichtigen Kindern auch so eine Sache. Und mit Überschreiten der magischen Vorschulgrenze ist da auf einmal kein Abwarten mehr. Keine Geduld, die Dinge von alleine kommen zu lassen. Auf einmal stehen Wörter wie Ergotherapie und Nachkontrolle und „sie müssen zu Hause“ im Raum. Und da schleicht sich dann auch bei gestandenen Pädagoginnen wie mir ein Sorgenfältchen auf die Stirn. Obwohl ich doch weiß, dass die Dinge ihre Entwicklungsreife brauchen. Und vorher da nicht viel hineinzutrainieren ist.
In all den Forderungen, Tabellen und Erwartungen stellt sich berechtigterweise wirklich die Frage: Wie kann man die eigenen Sprösslinge denn nun gut auf ihre Schullaufbahn vorbereiten?
Erstmal muss man dazu mal unter die Lupe nehmen, was Kinder denn so können sollen, wenn sie die Schultüren als Neulinge durchqueren. „Stift ordentlich halten, Farben korrekt benennen, sicher auf einer Linie schneiden, Formen erkennen, sich konzentrieren können, den eigenen Namen schreiben, bis 20 zählen, gängige Kinderlieder kennen, sicherer Umgang mit Versen und Reimwörtern, Schleife binden.“ Das wäre wohl die Antwort der gängigen Schuleingangstests. Meinetwegen durchaus sinnvolle Fertigkeiten. Die von tausenden Kindern zur gleichen Zeit in möglichst gleicher Qualität erwartet werden.
„Darüber ist eigentlich nur müde zu lächeln. Aber mir ist nicht zum Lächeln. “ -
Denn nach wie vor werden Lehrpläne, Vorgaben, Zeitdruck, der Wunsch nach schulischen AlleskönnerInnen und die mangelnde Unterstützung von Lehrkräften den völlig normalen Unterschieden der künftigen ErstklässlerInnen einfach nicht gerecht. Oh, was würde das für Vorbereitungsdruck nehmen. Einfach auf die Interessen und den Entwicklungsstand des eigenen Kindes eingehen. Und es guten Gewissens in die Schule schicken.
Aber keine Sorge, auch im jetzigen System kann man durchaus sinnvoll, individuell und kindgerecht zur kommenden Schulzeit hinführen. Ich werde mal kurz fachlich. Ich weiß, ich weiß, aber ein bisschen Expertise muss schon sein.
Wenn es um die Möglichkeiten der Schulvorbereitung geht, lässt sich das Ganze in etwa so bündeln:
a) Eingewöhnung
b) Ich-Kompetenz
c) Fachliche Vorbereitung (Motorikschulung, Schreib- und Rechenübungen etc.)
Seien wir ehrlich. Im Bereich der Eingewöhnung hat das deutsche Schulsystem noch Nachhilfe nötig. Eltern ist dieser Begriff aus der Tagesmutter-/Kitazeit natürlich bekannt und niemand würde die Notwendigkeit dieser Übergangsphase anzweifeln. Sein Kind in die Obhut anderer Personen zu geben, ist ein großer Schritt. Dazu kommen neue Umgebungen und Abläufe. Das braucht eine behutsame Eingewöhnungszeit. Schließlich haben wir es noch immer mit jungen Kindern zu tun. Mit Beginn der Schulzeit hört die behutsame Eingewöhnung oft auf. Es gibt eventuell Schnuppertage, im besten Fall noch gelegentliche Besuche, aber darüber hinaus findet, bis auf einige beispielhafte Ausnahmen, wenig statt. Dabei wäre auch hier eine Eingewöhnungsphase vor Beginn des täglichen Schullebens sinnvoll. Regelmäßige Besuche der neuen Umgebung, genaueres Kennenlernen der neuen Bezugspersonen, gemeinsame Schnupperstunden mit den aktuellen Erstklässlern etc.
Eltern können in diesem Punkt trotzdem ihren Beitrag leisten:
1.) Positiv über die Schule sprechen (auch wenn es vielen schwerfällt).
2.) Eigene, durchaus berechtigte Sorgen möglichst nicht auf die Kinder übertragen (glaubt mir, die spüren das).
3.) Schulwege regelmäßig ablaufen. Vertrauen schaffen. Anschaffungen für die kommende Schulzeit gemeinsam tätigen. Bilder der eigenen Einschulung rauskramen und gemeinsam anschauen.
All das schafft etwas mehr Ordnung, Sicherheit und Bekanntheit und nimmt dieser neuen Zeit ein klein wenig das Ungewisse.
Ich-Kompetenz. Königsdisziplin. Und doch oft sträflichst vernachlässigt. Werden eben doch oft eher fachliche Kompetenzen bei der Schulvorbereitung in den Fokus gerückt.
Ich-Kompetenz also. Was ist das gleich noch? Es ist ein bunter Strauß aus hochanspruchsvollen Einzelaspekten wie dem Erkennen und Umgehen mit eigenen Gefühlen und denen anderer, wie einer entwicklungsgerechten Selbstständigkeit, wie dem Formulieren eigener Meinungen und Bedürfnisse, wie einem positiven Selbstbild, wie einer reifenden Frustrationstoleranz. Na, sowas eben. Und bevor ihr jetzt hektisch werdet, weil:
„„Oh mein Gott, dass soll mein Kind können? Es flippt doch schon aus, wenn der Kakaobecher die falsche Farbe hat““ -
, dann atmet einmal tief durch. Denn Hand aufs Herz, wer von uns hat eine wirklich gesund ausgeprägte Ich-Kompetenz? Wer von uns kennt seine Bedürfnisse genau und kann sie vor allem auch in Einklang mit anderen für sich einfordern? Also ich persönlich habe da noch argen Förderbedarf. Generationsproblem. Heute wird der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zum Glück wieder deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Und genau darum geht es. Um den Prozess, nicht den Abschluss.
Kein Mensch hat nach sechs Lebensjahren seine Persönlichkeitsentwicklung abgeschlossen. Aber ich als Familie kann diesen Prozess quasi ab der Geburt anbahnen und positiv begleiten. Schulvorbereitung at its best. Denn ein gestärktes Kind, das, natürlich altersgerecht um seine Wünsche, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen weiß, ist gut für den Schulstart gerüstet. Kinder, die in ihrer Entwicklung den Freiraum bekommen haben, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten, Selbstständigkeit zu erlangen, eigene Bedürfnisse klar zu formulieren und die gelernt haben, wie gut es sich anfühlt, wenn diese respektiert werden, sind gut gerüstet für die emotionalen und sozialen Herausforderungen des Schullebens. Natürlich führt dieser Ansatz erst recht zu einer Lerngruppe aus autonomen Individuen, aber eine Schule, so wie ich sie mir wünsche, kann und muss damit umgehen.
Und dann wär da noch das Fachliche. Das, worauf seit vielen, vielen Jahren viel, viel Fokus liegt. Vorbereitung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen. Der Lehrplan meines Bundeslandes sieht übrigens an keiner Stelle vor, dass Kinder auch nur eine Zahl oder einen Buchstaben vor Schuleintritt kennen oder schreiben müssen.
„Eigentlich dürfen Kinder das alles auch erst in der Schule lernen. “ -
Aber dank unserer schneller-höher-weiter-Gesellschaft ist Zeit geben ein rares Gut.
Aber es gibt dennoch Grundlagen, die den Schriftspracherwerb im Vorfeld erleichtern und die man zu Hause förderlich beeinflussen kann. Besonders hilfreich ist zum Beispiel eine gut entwickelte phonologische Bewusstheit, also das Wissen um die Struktur einer Sprache (Wörter, Silben, Laute, Klänge, Reime etc.) und der sichere Umgang damit. Diese Bewusstheit wird bereits im Babyalter angebahnt. Kinderverse oder auch Kinderbücher in Gedichtform unterstützen diese Entwicklung früh. Und im besten Fall passiert das nicht durch Lernhefte, sondern ungezwungen in der täglichen Umgebung eines Kindes. Durch Hörspiele, durch Vorlesen, durch gewöhnliche Gespräche. Gleiches gilt für den alltäglichen Umgang mit Zahlen.
Und wenn ein Kind nun aber lesen will? Oder rechnen? Ist ein Kind kognitiv so weit und hat ein persönliches Interesse daran, dann macht es absolut Sinn, diesem Interesse entgegenzukommen. Durch Erstlesebücher, Buchstabenmagnete, Apps etc..
Mangelt es noch an der Reife und/oder an Interesse, dann kann man sich auf den Kopf stellen. Die Übungen werden kaum nachhaltig fruchten. Maria Montessori hat dieses Prinzip bereits schon vor vielen Jahren erkannt und spricht von einer vorbereiteten Lernumgebung, in der Kinder sich entsprechend ihrer Motivation und ihren Fähigkeiten, genau das heraussuchen, das ihrer Entwicklung gerade entspricht. Alles andere ist Dressur. Ein Ansatz, von dem ich sehr überzeugt bin.
Aber die Langeweile-Gefahr, was ist damit? Kommen wir mal zu Max und Selenay. "Nein, Max, nicht aufstehen, komm wir krabbeln lieber noch ein bisschen. Oder üben nochmal das Klatschen. Laufenlernen ist erst in 4 Monaten dran. Nicht, dass du dich bei der Tagesmutter langweilst, wenn die anderen Kinder da erst laufen lernen."
„Huch, Selenay, nein, bitte noch nicht sprechen. Zeig uns doch lieber nochmal, wie du so niedlich brabbelst. Sprechen sollst du doch erst in der Krippe lernen. Ok? Super.“
Klingt absurd? Ist es. Und gilt eben auch für das Lesenlernen.
Ständiges Einbremsen und Zurückhalten von Lerninhalten – das führt langfristig zu mindestes genauso viel Lernunmut wie Langeweile. Und das schon vor Schuleintritt. Das Ziel ist klar. Es sollen möglichst alle Kinder auf einem gewissen Level sein, damit der klassische Unterricht nach dem traditionellen Ablauf klappt. Das ist längst nicht mehr zeitgemäß und meiner Meinung nach auch der völlig verkehrte Ansatz. Nicht die Kinder angleichen, damit sie ins System passen. Lieber ein System schaffen, dass der normalen (!) Individualität grundlegend gerecht wird. Die Realität in Schulen sieht anders oft aus, ich weiß. Aber ich kann nur dazu ermuntern, die Entwicklung des eigenen Kindes nicht schon vor der Schulzeit irgendwo hinzubiegen.
„Also, liebe Eltern, habt Vertrauen darin, dass ihr eure Kinder kennt. “ -
Dass ihr wisst, wozu sie bereit sind. Dass ihr wisst, wo ihre Stärken und Interessen liegen. Habt Geduld mit den anderen Dingen. Fragt eure Kinder nach ihrer Meinung. Bezieht sie ein. Macht ihnen Mut. Beantwortet ihre Fragen. Lasst sie klettern, toben, rangeln. Lasst sie lesen, wenn sie wollen. Lasst sie Bastelkleber ignorieren, wenn es nicht passt. Lasst sie (Geschwister-)Streit auch mal selber regeln. Und lasst ihnen den anderen Kakaobecher. Und dann verspreche ich euch, habt ihr euren Teil mit Bravour gemeistert euch und eure Kinder mit allem Herz und Verstand vorbereitet. Und das mit dem offeneren Schulsystem ist dann mein Part.
In diesem Sinne
eure Frau Niechzial