Gefühle & Gedanken
Mach was aus deinem Neid
Keine Charakterschwäche, eher Kompass – Alexa von Heyden über die guten Seiten des negativen Gefühls.
von Alexa von Heyden - 01.05.2021
Den Text gibt es auch als Audio-Artikel, zum Anhören und Downloaden einfach hier klicken.
Achtsamkeitstrainer*innen raten ja davon ab, den Tag mit einem Blick auf Instagram zu starten. Ich mache das trotzdem. Noch im Bett wische ich durch meinen Feed und sehe Menschen in der Sonne liegen, pralle Babybäuche oder den Status: „Geimpft“. Laut der „Huffington Post“ hat eine Impfung heute den gleichen Status wie ein neues iPhone. Ein Stich geht durch mein Herz. Eine Impfung hätte ich auch gerne.
Besonders Instagram füttert unseren Neid, was Körper, Talent, Besitz oder Sonderrechte wie „systemrelevant“ betrifft. Das Gefühl, das eigene Leben würde durch den schönen Schein der sozialen Medien entwertet, habe nicht nur ich. Immer wieder höre ich Freund*innen und Kolleg*innen verkünden, sie seien Account X oder Y entfolgt. Von „toxischen Gefühlen“ ist da die Rede, man könne diese Art von Luxus, Selbstbeweihräucherung oder Lebensmodell zurzeit einfach nicht ertragen. Und doch gibt es Menschen, die genau diesen „Hate Watch“ brauchen.
Schon klar: Jemand, der in Pandemiezeiten mit einer neuen Gründungsidee erfolgreich ist, trotz der hohen Infektionszahlen in die Sonne fliegt oder generell die Aura eines Auserwählten versprüht – das kann schon mal auf die Laune schlagen. Vor allem dann, wenn gefühlt alle anderen Kinder in die Notbetreuung gehen, während das eigene gerade den Flur mit einem schwarzen Filzstift verschönert. Nicht nur der „Impfneid“, auch „Betreuungsneid“ ist allgegenwärtig.
Was stimmt nicht mit uns, wenn wir uns selbst nicht mit den Menschen, die uns nahe sind, über ihren Ur­laub, ihre Impfung oder Notbetreuung freuen können? Nichts. Es ist alles okay. Der Neid zeigt nur, was uns fehlt.

„Wie holen wir uns, was wir brauchen?“ -

In unserer Gesellschaft werden negative Gefühle wie Neid nicht geschätzt. Es wird uns eingeredet, dass vor allem der Neid ein böses Gefühl ist, für das man sich schämen muss. Wir wollen alle „gute Seelen“ sein, wünschen uns Bindung zu anderen. Dabei empfinden schon Kinder im Alter von zwei Jahren Gefühle wie „Das steht mir zu“ oder „Mir nimmt jemand etwas weg“. Sie werden dafür getadelt oder die Eltern erzählen ihnen Märchen, in denen Neid ein böses Ende bringt, man denke an Schneewittchens Stiefmutter oder die Pechmarie in Frau Holle.
Das ist kontraproduktiv, wie die Schweizer Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin Verena Kast schreibt: „Wir wissen sehr genau, dass der Neid uns in Gefahr bringt, gegen die Mitmenschlichkeit zu verstoßen, deshalb wird die Haltung des Neides auch bei anderen Menschen, besonders bei Kindern, getadelt, was dann dem schon unter Druck geratenen Selbstwertgefühl erst recht den Rest gibt.“ Stattdessen wachsen wir in dem Glauben daran auf, dass durch eine positive Haltung auch nur positive Dinge in unserem Leben passieren. Allein das letzte Jahr hat gezeigt, dass dies nicht immer der Fall ist. Und zwar auch dann nicht, wenn wir längst alle Kraftreserven mobilisiert haben.
Es wird kaum über Strategien gesprochen, die dabei helfen können, mit Neid besser umzugehen. Dabei ist gerade die Fähigkeit, negative Gefühle anzuerkennen und zu bewältigen, einer unserer wichtigsten Wegweiser.
Ich selbst wünsche mir diese Praktik. Denn auch wenn ich den Anschein erwecke, dass ich mit einem zenbuddhistischen Gleichmut durchs Leben gehe und ein wirklich privilegiertes Leben auf dem Land führen darf, erlebe ich immer wieder FOMO-Attacken (engl. fear of missing out) und denke, alle anderen hätten mehr Spaß.
Ausgerechnet in meiner Heimat, dem Rheinland, sagt man: „Man muss auch gönnen können.“

„Ganz ehrlich, an manchen Tagen fällt es mir schwer, großzügig zu sein.“ -

Dann bin ich neidisch auf die Autor*innen, die gerade ein Buch veröffentlicht haben, das von den Kritiker*innen gefeiert wird, während ich meine Deadline seit über einem Jahr überziehe. Ich bin neidisch auf alle, die vor zehn Jahren Bitcoins gekauft haben und entspannt auf ihre Altersvorsorge blicken können. Ich bin immer noch neidisch auf Paare, die natürlich schwanger werden können, während ich mich von der Idee einer großen Familie verabschiedet habe.
Selbst auf ganz profane Dinge bin ich neidisch. Wie zum Beispiel einen Backofen. Wir haben in unserem Haus nämlich keinen und jedes Mal, wenn eine*r Bananenbrot aus dem Rohr holt, meldet sich mein Frust, dass wir es bislang nicht geschafft haben, im schwedischen Einrichtungshaus einen 1,60 m x 1,80 m großen Hochschrank mit zwei Schubladen und einer Tür zu planen.
Was an dieser Stelle interessant ist: Expert*innen beschreiben Neid als eine Mischung aus Angst, Wut und Traurigkeit. Und wenn die letzten Monate eines waren, dann das: geprägt von diesen drei Gefühlen.
„Was uns wertvoll erscheint, was unser Begehren weckt und was wir zunächst faktisch oder vermeintlich nicht haben können, kann Neid auslösen.

„Hier wird deutlich, wie nahe Neid eigentlich bei der Trauer ist“,“ -

bestätigt Verena Kast, die auch Autorin des Ratgebers „Über sich hinauswachsen – Neid und Eifersucht als Chancen für die persönliche Entwicklung“ ist. Sie schreibt: „Der neidische Mensch versteht es nicht, darüber zu trauern, dass ihm etwas fehlt, und weil diese Trauerarbeit nicht geleistet wird, kann auch nicht eine neue Zielrichtung im Sinne eines aktiven Begehrens von etwas, das uns auch erfreuen könnte, sich zeigen und eingeschlagen werden.“
Indem wir anerkennen, dass wir neidisch sind, machen wir den ersten Schritt. Denn unterschätzen sollte man dieses Gefühl nicht. Neid ist eine Variante von Aggression. Wenn aggressive Impulse nicht mehr nach außen, sondern gegen das Selbst gerichtet werden, kann eine Depression entstehen. Die Psycholog*innen sprechen in diesem Zusammenhang von „Wendung gegen sich selbst“. Das sind wirklich toxische Gefühle. Verena Kast sagt, es sei deshalb wenig sinnvoll, sich zu fragen, ob man ein großer Neider oder eine großer Neiderin ist. Es sei sinnvoller, sich zu fragen, in welchen Situationen man neidisch wird, wie sich dieser Neid dann jeweils anfühlt – und was er von uns will.

„Der Neid lebt vom Vergleich. Er entsteht aus der Wahrnehmung, dass jemand etwas besitzt, was ich nicht haben kann.“ -

Oder etwas ist, was ich selbst gern wäre. Ich fühle mich dann schmerzlich ausgeschlossen von dem, was ich begehre. Neid weist also auf einen eigenen Mangel hin“, bestätigt der Berliner Psychoanalytiker Eckehard Pioch in einem Interview mit „Psychologie Heute“.
Was also, wenn wir unseren Neid zulassen, ihn erleben und anfangen zu verstehen, woher er kommt? Wäre das nicht viel effektiver, als nur das oder diejenigen aus unserem Leben zu verbannen, die dieses Gefühl auslösen? Zugegeben: Diese Art von Selbstfürsorge bringt etwas Arbeit mit sich.
Mit diesen drei wesentlichen Fragen nimmt Verena Kast sich das Neidgefühl vor:

1. Vor was habe ich Angst?

Als Kinder sind wir neidisch auf unsere Geschwister, als Teenager auf den Schulstar. Wenn wir älter werden, beneiden wir andere um ihren Wohlstand oder gesellschaftlichen Status.
Oft steht hinter dem Gefühl von Neid ein Bedürfnis nach Sicherheit, Unabhängigkeit oder Bestätigung. Je niedriger der eigene Selbstwert, desto größer der Neid auf all jene, die sich im gleichen Bereich anstrengen, eine Leistung erbringen oder absahnen. Im Fall von fehlenden Impf- oder Notbetreuungsangeboten fühlen wir uns ohnmächtig oder übersehen.
Oft hilft der Austausch mit den beneideten Menschen oder Gruppen. Ich gehe dann in die Kommunikation und frage: „Wie hast du das gemacht?“ Dann erkenne ich, dass meine Gefühle oftmals nur eine Projektion waren.
Manchmal muss ich mir eingestehen, dass ich mein Selbstkonzept unter den realen Bedingungen anpassen muss.

„Es kann befreiend sein, zu erkennen, dass man etwas nicht mehr kann oder niemals erreichen wird, auch wenn man sich es mal gewünscht hat.“ -

Wenn es um Geld geht, erinnere ich mich an eine der Lektionen aus dem Finanzratgeber „Rich Dad Poor Dad“ von Robert Kiyosaki. Statt sich zu ärgern und zu denken: „Das kann ich mir nicht leisten“, sollte man sich fragen: „Wie kann ich es mir leisten?“ Sprich: Wie kann ich in Zukunft cleverere finanzielle Entscheidungen treffen, die es mir vielleicht möglich machen, meine materiellen Träume eines Tages zu verwirklichen?
Die Forderung nach einer Gehalts­er­hö­hung ist dann nicht mehr unverschämt, sondern fällt ebenfalls unter Selbstfürsorge.

2. Was macht mich wütend?

Wie wohltuend: Verena Kast redet das Gefühl von Neid nicht klein, im Gegenteil – sie ist verständnisvoll. „Neidisch werden wir dort, wo wir bei einem Vergleich uns und unsere Leistung von vornherein verloren geben. Wir bewerten uns dann zumindest unbewusst dem fraglichen Wert gegenüber als (…) unterlegen, unfähig, bei einer gleichzeitigen zwingenden inneren Verpflichtung, auch so oder besser sein zu müssen. Dieser Widerspruch zwischen innerer Forderung und dem Wissen, dass das nicht gelingt, nicht gelingen wird, ist quälend.“
Manchmal glauben wir, uns durch Entwertung der Leistung oder der Person vor dem Neid schützen zu können. Wir sagen dann Sätze wie:
„X ist inkompetent.“
„X ist gebotoxt.“
„X ist keine gute Mutter.“
„X hat reiche Eltern.“
„X ist out.“
Dabei rutscht unser eigenes Leben mit in die Belanglosigkeit, weil nie etwas schön, neu, aufregend oder interessant sein kann. Interessant ist dabei die Frage: Wie wichtig ist das, auf was ich neidisch bin? Ein Jahr später können wir über den Mangel von Klopapier und Hefe herzlich lachen.

3., , Warum bin ich traurig?

Wir haben gelernt: Neid ist eine Form von Trauer. Doch was genau betrauern wir? Uns selbst. Weil wir unsere Bedürfnisse nicht an erste Stelle gestellt haben. Stattdessen haben wir uns um den Erfolg und das Wohlergehen der anderen gekümmert, weil wir Frauen eine gute Mutter/Partnerin/Angestellte/Kollegin/Freundin sein wollten.

„Oft bleibt bei all unserem Pflichtgefühl unsere eigene kleine Seele auf der Strecke. Wir sind nicht im Flow mit uns selbst.“ -

Wir ärgern uns über unser eigenes Unvermögen – siehe mein Beispiel von der Altersvorsorge. Oder wir glauben, dass wir nicht die gleichen Chancen wie andere bekommen, sei es in der Karriere oder Kinderbetreuung.
Fragen wir uns also selbst: Wo will ich hin? Was brauche ich dafür? Achtsamkeit bedeutet, nicht nur bewusst mit unserem Körper, sondern auch bewusst mit unseren Gefühlen umzugehen. Besonders aufmerksam mit den negativen, weil sie anzeigen, dass wir mit dem Istzustand nicht zufrieden sind. Ohne sie gibt es keine Weiterentwicklung.
In anderen Kulturen unterteilt man Neid deshalb in gute und böse Varianten. Böser Neid hängt davon ab, wie hoch das eigene Selbst­wert­ge­fühl ist. Es endet mit dem Gefühl, das Begehrte nie erreichen zu können. Wir werden missgünstig und bleiben im Hate Watch.

„Freundlicher Neid kann neue Kräfte mobilisieren und zu Tatendrang anspornen.“ -

Der Erfolg der ande­ren moti­vie­rt, sich ins Zeug zu legen und das eigene Leben anzu­ge­hen. Gute Beispiele: Frauen wie Madame Moneypenny oder Christiane von Hardenberg, die wir bewundern, weil sie sich ihre finanzielle Expertise und ihren Status selbst erarbeitet haben.
Negative Gefühle bieten viel mehr eine Chance, dass wir über uns selbst hinauswachsen können, als der flauschige Deckmantel der optimistischen Fröhlichkeit, unter dem es angeblich warm und kuschelig ist, aber in Wahrheit ganz schön müffelt.
Menschen, die ihren Gedanken und Gefühlen einen Raum geben, werden automatisch weniger neidisch, weil sie begreifen, dass es im gegenwärtigen Moment viele Dinge gibt, die gut laufen und für die man dankbar sein darf. Damit kommt automatisch die Erkenntnis: Mit mir ist alles in Ordnung, auch wenn ich nicht dauernd glücklich bin.

Abo abschließen, um Artikel weiterzulesen

Endlich Ich - Abo

6,90€

Alle Artikel lesen, alle Podcasts hören

4 Wochen Laufzeit, monatlich kündbar
Digitaler Goodie-Bag mit exklusiven Rabatten
min. 2 Live-Kurse pro Woche (Pilates, Workouts, etc.)
Bereits Abonnent? Login