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Es ist Freitag, der 13. um 11.02 Uhr. Ich sitze im Lehrerinnenzimmer meiner kleinen Grundschule und starre auf einen Laptop. Meine Kolleginnen starren mit. Und viele Eltern anderswo. Und so starren wir vor uns hin, als unser Kultusminister vor Kameras und Mikros tritt und mit ernster Miene und bedeutungsträchtigen Atempausen die Schulen in Niedersachsen für 5 Wochen schließt. Unerlässliche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus‘, dessen Name aus allen Kanälen des Landes schallt.
Und in der Sekunde dieser Nachricht um 11.02 Uhr am Freitag, den 13. werden aus unzähligen Eltern plötzlich Lehrkräfte auf Zeit.
Da ist er. Der Salat.
Man hat sich gesammelt. Mehr oder weniger. Die eigene häusliche Anwesenheit sichergestellt. Home-Office. Zwangspausen. Der Sorgen sind da einige. Na gut, aber Schularbeiten sind ja wichtig. Dann sind die Kinder wenigstens beschäftigt, wenn man selbst am Rechner sitzt und versucht, seiner Arbeit nachzugehen. Und dann schüttelt man die übervollen Ranzen aus. Die übervollen Wochenpläne. Öffnet Mails mit übervollen Aufgaben. Oder trifft im Gegenteil auf gähnende Leere. Und beginnt so oder so kurz zu schlucken.
„Gleichzeitig Home-Officing, Home-Schooling, Home-Haushalting und Home-Bespaßungsclowning. Ergibt Home-Nervenzusammenbruching.“ Marlene Hellene
Das bringt es auf den Punkt. Bereits nach den ersten Tagen quellen sämtliche meiner digitalen Postfächer über. Nachrichten und Hilferufe von unzähligen verzweifelten Eltern, deren Nerven blank liegen. Weil sie sich in Grund und Boden diskutieren, um den Nachwuchs zum Lernen zu bewegen. Oder auch, weil sie so gar nichts an die Hand bekommen haben. Weil das Abarbeiten umfangreicher Lernlisten in dieser neuen Situation und Umgebung Stress erzeugt. Weil manche Schulen Fristen setzen, Ergebnisse sehen oder sogar weiter Noten geben wollen und das unfassbaren Druck ausübt. Weil das (häusliche) Unterrichten Skills braucht, die gerade jetzt von Eltern gar nicht so leicht aufzubringen sind – Geduld, Ruhe.
Muss das alles denn sein?
Ich hab Verständnis. Uns Lehrkräften sitzt so viel im Nacken. Dienstpflichten. Die Lehrpläne. Die Hoheit des fachlichen Lerninhalts. Unsere eigentliche Unentbehrlichkeit. Und wir jetzt getrennt von unseren Klassen und dem Kerngeschäft. Der digitale Unterricht noch in den Kinderschuhen und bisher nur sehr bedingt eine Hilfe. Also wenigstens raus mit dem Material. Viel verschickt ist halb unterrichtet. Ich hab in der Eile auch erst so reagiert. Und unter den Bundesländern keine einheitliche Regelung. Nicht mal IN den Bundesländern. Viel hängt an den Entscheidungen der Schulleiter:innen.
Es gibt sicherlich Familien, da flutscht es. Die sind vielleicht auch froh um diese Aufgaben, weil ihre Kinder dieses Futter fordern und brauchen. Das ist ok. Lernen ist weiterhin erlaubt. Aber vielerorts sieht es eben ganz anders aus. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Oder der Tafelschwamm im Waschbecken.
„Ich halte es für fatal, die reguläre Beschulung nun einfach so nach Hause zu verlagern.“ -
Denn wer kann es in diesem Umfang wirklich leisten? Was ist mit Sprachbarrieren? Was ist mit Wissensbarrieren? Was ist mit Eltern, die weiterhin arbeiten müssen? Was ist mit kinderreichen Familien? Was ist mit Eltern, deren finanzielle Sorgen gerade übergroß werden? Was mit denen, die bereits jetzt vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz stehen? Was ist mit Eltern, die (psychisch) erkrankt sind? Was ist mit all denen? Das sind nicht nur ein paar. Viele stoßen an ihre Grenzen. Können ihre Kinder nicht im geforderten Maß begleiten. Der Lernstoff bleibt liegen. Oh, Bildungsungerechtigkeit, ick hör dir trapsen.
Und wenn man mich fragt – und wie sehr wünschte ich, man würde uns mehr fragen – dann ist jetzt nicht die Zeit, um sich von Lehrplänen und klausurbedingten Noten geißeln zu lassen. Abschlussjahrgänge klammere ich hier aus. Das sind besondere Umstände. Aber für alle anderen: Wir sind im Ausnahmezustand. Alle. Und dürfen, müssen Prioritäten setzen. Wir müssen flexibel sein. Und umdenken. Und mit dem Brustton der Überzeugung Dinge streichen. Ich bin überzeugt – Wir verbauen durch diesen zeitlich begrenzten Ausfall langfristig keine Bildungswege. Keine Karrieren. Aber wenn wir jetzt am regulären Stoff und Klausurmengen festhalten und die Vorbereitung in Elternhäuser schieben, die das nicht leisten können und sollten, dann vielleicht schon. Also Druck raus, Kreativität rein. Und ich würde jetzt gerne ‚Amen‘ sagen.
Na, aber ich hätte schon ein bisschen Zeit! Also her mit den Insidern! Her mit den Ideen! Her mit dem Kaffee!
Schritt 1 – gleich mal das erste Schlückchen Kaffee nehmen. Und dann wollen wir mal. Weil Vertiefung, Wiederholung und Beschäftigung mit schulischen Dingen sind ja trotzdem erlaubt. Und wenn man sich da die Sahneschnittchen raussucht, dann gibt es die Chance als Eltern im nennenswerten Besitz seines Nervenkostüms zu bleiben. Für die folgenden Ideen gilt: Da ich Grundschullehrerin bin, richten sie sich eher an jüngere Kinder. Die Impulse begleiten und stützen den schulischen Lernstoff, rennen ihm nicht voraus. Es ist eine Sammlung. Nimm dir, was du brauchst. Egal wie viel oder wenig.
So, jetzt gleich nochmal ein Schlückchen Kaffee.
Struktur und Vorbereitung
Ob nun mit einem Stundenplan oder einfach durch wiederkehrende Tagesabläufe. Struktur hilft jetzt allen. Und hier gleich der erste Tipp: Nutzt für Schularbeiten den Biorhythmus eures Kindes. Schulzeiten sind fix. Beginn 8.00 Uhr. Dein Kind hat aber um 10.00 Uhr seine Hochphase? Oder um 12.00 Uhr? Oder abends um 19.00 Uhr? Beachtet das ruhig, wenn ihr Tagespläne erstellt.
Achtet auf Übergänge. Auch ihr könnt nicht von 0 auf Arbeit in Sekunden. Unbewusst haben viele von uns Rituale, die Arbeitsphasen einläuten. Sich einen Kaffee machen. Oder nochmal Pipi. Oder sich die Hände eincremen. Oder sich an einen bestimmten Arbeitsplatz setzen.
„Findet ein Ritual mit euren Kindern. Es erleichtert den Übergang.“ -
Das kann eine kleine Sportübung sein. Das kann das Einrichten des Lernplatzes sein, indem man zum Beispiel Kakao und Knabberzeug bereitstellt. Das kann ein akustisches Signal sein. Zum Einleiten von Lernphasen kann man wunderbar die Löwenzahn-Musik laufen lassen. Und wenn man die Musik immer leiser dreht, bis sie schließlich nicht mehr zu hören ist, muss jeder startklar auf seinem Platz sein. Gerade jüngere Kinder sind noch sehr empfänglich für so spielerische Startsignale.
Wenn ihr ins Arbeiten gefunden habt, vereinbart verlässlich ein Pensum. „Was willst du heute schaffen?“ Ihr könnt euch zeitlich einteilen (z.B. 30 Minuten arbeiten unabhängig davon, wie viel geschafft wird) oder auch anhand der Aufgaben (z.b. zwei bestimmte Aufgaben fertigstellen unabhängig davon, wie lang es dauert). Es hilft einfach sehr, vorher zu vereinbaren, wann man fertig ist. Also die Phase nicht nur einzuleiten, sondern auch zu begrenzen. Und dabei zu bleiben. Selbst wenn man im Eifer denkt „Och, das ging ja fix und stressfrei, dann können wir ja doch noch mehr machen...“ Man kann mit den Kindern auch zu Beginn noch besprechen, was nach der Lernphase kommen soll. „Worauf freust du dich, wenn du die Schularbeit geschafft hast?“
Mathe
Da in Mathe die Automatisierung und somit die Wiederholung eine große Rolle spielt, kann nun die Zeit, sofern passend, wunderbar genutzt werden, um das ein oder andere wieder aufzufrischen. Besonders Kinder, die mit dem Schultempo oft hadern, haben jetzt Ruhe sicherer zu werden ohne dass sofort das nächste Thema an die Tür klopft.
Dafür kann ich im Besonderen die ANTON-App empfehlen. Aufgaben von Klasse 1 – 8, in kleinen Themenhäppchen überschaubar serviert und mit nettem Motivationsprinzip.
Wer es etwas informatischer mag, dem sei die Seite „Programmieren mit der Maus“ empfohlen. Ein toller Einstieg in das Prinzip von Programmiersprachen für Kinder ab Klasse 3.
Auf der Seite www.mathemonsterchen.de findet ihr jede Menge Bastelmaterial für nahezu allen grundschulrelevanten Themen der Mathematik.
Deutsch
Lesen geht immer. Schreiben auch.
Briefe sind gerade wieder schwer angesagt. Briefwechsel mit der besten Freundin. Eine Mail an die Klassenlehrkraft. Eine Kurznachricht an Oma.
Quatschgeschichten machen Spaß. Lustige Wörter überlegen, auf kleine Zettel schreiben, dann 5 Zettel ziehen (Mama und Papa gerne auch) und sich damit eine Geschichte ausdenken. Geht auch nur mündlich. Auch das fördert wichtige Kompetenzen.
Bücher lesen. Welch abgenutzt schnödlangweiliger Rat. Aber wie wär‘s mit ein paar kreativen Aufgaben dazu? Man kann zum Beispiel ein Werbeplakat zum Lieblingsbuch gestalten lassen. Und vielleicht sogar im Hausflur aufhängen als Tipp für andere Parteien im Haus.
„Hörspiele und -bücher eigenen sich auch für das Fördern literarischer Kompetenzen.“ -
An dieser Stelle empfehle ich euch (tatsächlich eher für ältere Kinder) „Die 13½ Leben des Käpt‘n Blaubär“. Eine fesselnde Geschichte zum Abtauchen. Dirk Bach liest fantastisch. Und das Beste. Sie geht viele, viele, wirklich sehr viele Stunden.
Viele Kinder beschäftigen beim Zuhören übrigens gern ihre Hände. Also einen Kritzelblock, Knete, einen Stressball, Murmeln etc. bereitlegen. Das hilft beim konzentrieren Zuhören.
Sachunterricht
Endlich Zeit für eigene Interessen. Oder das tägliche, sachunterrichtliche Leben. Den Garten oder Balkon bepflanzen. Und sich durch die Löwenzahn-Mediathek schauen und weiterforschen. Ein Wettertagebuch führen.
Kleine Projekte
Das eigene Traumzimmer aus Krimskrams-Resten in einen Schuhkarton bauen, mit Kresse, einer Schüssel und bemalten Steinen einen Feengarten pflanzen, ein Tagebuch für diese Zeit gestalten (was für ein historisches Dokument), aus einem alten Karton einen Fernseher bauen und sich selber ein Programm ausdenken, ein eigenes Kochbuch anlegen und Pinterest auf die Kurzwahltaste.
Freiraum
Und wenn mein Kind nicht möchte? Oder ich?
„Die Krux unserer Leistungsgesellschaft ist, dass sie viel zu früh denkt, man würde im Spielen nichts mehr lernen.“ -
Irgendwann hat man beschlossen, dass man ab einem bestimmten Alter besser aus Heften lernt. Dass man in klar getrennten Fächern denken muss. Und dass Kinder augenblicklich gedanklich verkümmern, wenn sie nicht in einem Klassenzimmer sitzen und fein säuberlich Arbeitsblatt nach Arbeitsblatt und Thema nach Thema beackern. Es gibt diese Kinder. Die das Futter brauchen. Aber es gibt auch ganz viele andere.
Und wir wissen – Gelernt wird immer. Wenn ihr zu den glücklichen Eltern gehört, deren Kinder sich durchaus zu beschäftigen wissen. Dann erstens bitte Tipps an mich, wie zur Hölle ihr das hinbekommen habt und zweitens – Rührt nicht dran! Seiner eigenen Muße nachzugehen ist etwas Wunderbares. Und darf gerne auch mal wichtiger sein als der schulische Wochenplan.
Beziehung schützen
Prinzipiell gilt – macht euch die Lernzeit so schön wie möglich. Und seid milde. Gebt euch Zeit herauszufinden, wie ihr alle so halbwegs unter einen Hut passt. Wie viel ist überhaupt möglich? Wo sind die Grenzen? Und wenn ihr sie kennt, bleibt deutlich davor stehen. Nichts ist für Kinder in dieser Unsicherheit gerade wichtiger als die Beziehung zu euch. Lasst Lernfrust nicht daran rütteln. Und nichts ist für euch Eltern gerade wichtiger, als halbwegs stabil zu bleiben und klare Prioritäten zu setzen. Nehmt Kontakt mit euren Schulen auf, und sagt offen, dass ihr das Lernpensum nicht erfüllen könnt (oder wollt). Ich empfinde es als die Aufgabe von uns Bildungsmenschen, nach der Krise einen kompetenten Weg zu finden, die vergangenen Wochen vernünftig aufzuarbeiten.
Apropos nach der Krise...
Danach nutzen wir hoffentlich die jetzige Erkenntnis, dass wir es gerade viel leichter haben könnten, wäre unsere Bildungslandschaft digital anders aufgestellt, wären Schüler:innen eine größere Mitverantwortung für ihr Lernen gewöhnt, würden wir noch mehr auf Kompetenzen schauen, als immer nur dem Lehrplan hinterherrennen zu müssen und würde Selbstständigkeit kompetenter angebahnt und ehrlich gelernt, nicht nur verlangt.
Ich werde derzeit bombardiert mit Bitten um Interviews. Und meine liebste Interviewfrage war „Wie soll es den Lehrkräften gelingen, mit den möglichen unterschiedlichen Lernständen von Schüler:innen nach der Coronakrise umzugehen?“ Und jetzt höre ich jede Lehrkraft, die das hier liest, vermutlich mal kurz laut lachen.
Unterschiedliche Lernstände sind – Überraschung – unser täglich Brot. Die Vorstellung, dass 30 Kinder das gleiche wissen, nur weil sie eben in der gleichen Unterrichtsstunde gesessen haben, ist eine Utopie, an die man sich sogar noch heute bis in die Lehrer:innenausbildung klammert. In unseren Klassen sitzen 30 unterschiedliche Lebensumstände. 30 unterschiedliche Geschichten. 30 unterschiedliche Persönlichkeiten. Und 30 unterschiedliche Lernstände. Und wir können nur auf unsere Verantwortung schauen, diese jetzt nicht noch weiter auseinander driften zu lassen. Jetzt ist nicht die Zeit für Schularbeiten. Jetzt ist die Zeit für Miteinander. Für Kommunikation und Anrufe. Für Langeweile und Ideen. Für Zusammenwachsen. Fürs Kennenlernen. Für das Anerkennen von Grenzen. Für Selbstwirksamkeit. Und für sehr viel Kaffee und Kakao.