Das war auch mein Gedanke und deshalb habe ich Saskia als unsere neue Kolumnistin für Schulthemen engagiert. Alle zwei Monate schreibt sie uns ab jetzt ihre Einschätzung zu gewissen Themen auf. Diesen Monat geht es um die Frage: Was passiert, wenn man ein Kind zu früh einschult? In unserem Leben gerade ein großes Thema, da wir ein Kann-Kind haben. Wir hören die wildesten Theorien dazu und es gibt zu recht diverse Meinungen zu dem Thema.
Meine Schwester, Grundschullehrerin und Mutter eines früh eingeschulten Kann-Kindes findet, dass es funktioniert, wenn die Eltern die Situation mit auffangen (Hausaufgabenbetreuung, Reflexion des Geschehenen etc.) und die Verantwortung nicht an die Lehrer abgeben, weil die ebenfalls schon viel zu meistern haben.
Und hier kommt Saskias Meinung zu dem Thema, die zwei Freundinnen von mir (auch beide Lehrerinnen) kommentierten mit "das spricht mir (leider) voll aus dem Herzen!". Ich bin sehr gespannt, wie ihr zu der Frage steht.
Wenn ihr für die nächste Kolumnen-Ausgabe Fragen habt, die ihr gern von Saskia in ihrer Kolumne beantwortet hättet - immer her damit an
erzaehlsmir@ohhhmhhh.de.
Und jetzt: Viel Freude mit Ausgabe eins von "Du, Frau Niechzial...".
Herzlich,
Steffi
++++
Irgendwann wachst du morgens auf, hast vielleicht ein- bis zweimal geblinzelt und zackbumm, dein Kind wird schulpflichtig. Und während du dich noch wunderst, schließlich hast du doch gerade noch Babybrei vom Fußboden gewischt, müssen Entscheidungen getroffen, wahnwichtige Termine mit profunden Titeln wie „Schuleingangsprüfung“ wahrgenommen und Schauergeschichten anderer schulerfahrener Eltern ausgeblendet werden. Ein Abenteuer.
Aber von vorne. Schulpflichtig wird dein Kind genau dann, wenn es vor dem in deinem Bundesland geltenden Stichtag das 6. Lebensjahr vollendet hat, also seinen 6. Geburtstag feiert. Den Stichtag bestimmt jedes Bundesland selbst und so ist in Deutschland vom 30.06. bis zum 30.09. alles dabei. Und das bedeutet, dass in manchen Bundesländern nahezu alle schulpflichtigen ErstklässlerInnen bei der Einschulung 6 Jahre alt sind, während in anderen Bundesländern ein deutlicher Prozentsatz an Kindern zum Schulbeginn noch 5 Jahre alt ist.
Wird dein Kind nun schulpflichtig, stellt erstmal ein fachexpertliches Gremium aus Kinderarzt/-ärztin, ErzieherInnen und LehrerInnen rechtzeitig fest, ob dein Kind auch schulreif ist. Etwas, das das deutsche Bildungssystem im Übrigen besonders gut kann: Beurteilen, kategorisieren, Listen abhaken, einsortieren.
Bei der sagenumwobenenen Schuleingangsprüfung stellt zunächst mal ein Arzt oder eine Ärztin fest, wie es um die Schulreife deines Kindes steht. Es werden dabei die allgemeine körperliche Entwicklung, die motorischen Fertigkeiten sowie der sprachliche Entwicklungsstand deines Kindes überprüft.
Ein besonderes Augenmerk liegt außerdem auf den kognitiven Fähigkeiten. Hat dein Kind eine angemessene Merkfähigkeit? Kann es Dinge vergleichen und Zusammenhänge verstehen? Manchmal wird auch noch ein Gespräch mit euch Eltern über die sozialen Kompetenzen eures Kindes geführt. Kann es abwarten? Ist es selbstständig? In den meisten Fällen wird sich von ärztlicher Seite dann für eine Einschulung nach Plan entschieden. Denn die meisten Kinder sind mit 5-6 Jahren kognitiv, sprachlich und körperlich prinzipiell so gut entwickelt, dass einer Einschulung nach diesen Parametern wenig im Weg stehen würde. Und selbst, wenn hier und da ein Häkchen auf der Liste fehlt.
„Ein bisschen Logopädie hier, ein bisschen Ergo da und wir schaukeln das Kind schon zur Schultüte.“ -
Im Übrigen ist dieses inflationäre Förderungsverhalten oft ein Schlag für all jene, die wirklich auf diese wertvolle Unterstützung angewiesen sind. So weit. So sarkastisch. So gut. Würde es denn nur um das Kognitive gehen. Aber Schule verlangt unseren Kindern so viel mehr ab als Buchstaben und Zahlen. So viel mehr als Ausschneiden und Fibel. So viel mehr als Schwungübungen und Pausenbrot. Denn mit der Türschwelle zum Schulgebäude betritt dein Kind im schnödeklassischen Fall eine Welt von Vorgaben, Strukturen, Kompromissen, Erwartungshaltungen, Plänen und Zielsetzungen, die hohe Ansprüche an ihre emotionalen, sozialen und persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen stellt.
Konkret - Mit dem Moment der Einschulung verbringt dein Kind einen deutlichen Teil seiner Zeit an einem Ort, an dem ihm vorgeschrieben ist, wann der Tag beginnt. Wann es essen und im schlechtesten Fall, wann es trinken darf. Wann es sich anstrengen muss und wann es Pause machen soll. Wann es sprechen darf, wann es schweigen muss. Wann es auf die Toilette geht. Wann es sich bewegen soll. Wann es sitzen soll. Wie es sitzen soll. Neben wem es sitzen soll. Wann es singt. Wann es bastelt. Wann es schreibt. Wann es rechnet. Wann es sich streitet, wann es keine Lust oder einen schlechten Tag haben darf (im Ernstfall nämlich am besten überhaupt nicht). Zu welchem Zeitpunkt es was können muss. Für was es sich interessieren muss. Auf welchem Weg es zu Ergebnissen kommt. Wann..., nun ja, ich könnte weitermachen, aber ich denke der Punkt ist klar.
Vielleicht ein wenig überspitzt? Übertrieben? Ein bisschen. Und eigentlich auch nicht. Denn, sobald wir nicht von Alternativschulen wie Montessori und Co sprechen, dann sehen die Strukturen grundlegend einfach so aus. Stundenpläne nach Fächern gegliedert, feste Pausenzeiten, Sitzordnungen, Lehrpläne, zeitgleiche Tests und der Wunsch nach einem bestimmten Arbeits- und Sozialverhalten. Ihr wisst schon, das mit dem Stillsitzen, Melden, Leise sein und so. Nein, natürlich nicht mehr überall. Aber noch immer überall genug.
„Ja, aber so ist das Leben nun mal. Das müssen Kinder lernen. Man kann nicht immer, wie man will.“ - Möglich. Aber man stelle sich eine Jobausschreibung mit den oben genannten doch recht eng gefassten Vorgaben vor. Würdest du dich bewerben? #denkimpuls
Und nun die Kurve. Um in diesem Regel- und Anforderungssystem zu bestehen, braucht es neben jedem klugen Köpfchen vor allem eine klare emotionale Reife. Es braucht eine gewisse Ich-Stärke, um seine eigenen Bedürfnisse zu kennen, sie auszusprechen und sie in Einklang zu bringen, mit dem was von außen erwartet wird. Und was braucht das Reifen als Prozess ganz besonders? Genau – Zeit, Zeit, Zeit.
Ich erlebe seit meinem Berufsstart so viele Kinder, die körperlich und fachlich fit sind und doch schulisch so schnell ins Straucheln geraten, weil sie den Herausforderungen nicht gewachsen sind. Weil die Konzentration noch nicht reicht. Der Bewegungsdrang gewinnt. Weil sie den rasanten Phasenwechseln nicht hinterherkommen. Weil sie schlichtweg noch nicht so weit sind. Und dann rennen sie immer wieder gegen Wände. Stoßen auf Widerstand. Merken, was sie laut Vorgabe alles noch nicht können. Spüren, wie sie permanent Erwartungen enttäuschen. Und Stück für Stück bröckelt das Selbstbewusstsein. Stück für Stück versiegt die Lernfreude. Stück für Stück wächst das Bauchweh, vielleicht sogar Angst. Stück für Stück verschwindet eine Forscherseele. Und an ihre Stelle treten Diagnosen und Fördergespräche und Erklärungsversuche. Und Sorgenfalten auf der elterlichen Stirn. Ich weiß, das klingt dramatisch. Ist es auch. Leider. Ich habe es gesehen. So oft.
„Aber was, wenn sich mein Kind langweilt, wenn ich es später in die Schule schicke?“
„Hattet ihr schon mal Langweile? Kann nerven. Ja. Oder kreativ machen.“ -
Aber so oder so bringt es dich nicht fundamental ins Wanken. „Hey, das ist ja alles einfach. Das kann ich schon“ gegen „Ich schaffe das alles nicht. Ich kann gar nichts. Alle anderen sind viel schneller.“ Ihr versteht. Und damit will ich nicht sagen, dass es für uns nicht auch eine große Herausforderung ist, UNTERforderten Kindern gerecht zu werden. Nein, das braucht viel pädagogisches Geschick.
Trotzdem gab es bisher meinerseits sehr kindorientierte Wege, damit umzugehen. Aber die Zahl der Kinder, die sich wirklich ernsthaft problematisch langweilen, wenn sie in die Schule kommen (also so wirklich ernsthaft an Probleme durch Langweile stoßen und nicht als Erklärungsmöglichkeit für alles), die ist überschaubar und sollte nicht als allgemeiner Angstverbreiter oder generelle Entscheidungsgrundlage für die Einschulungsfrage dienen. Denn die Zahl der Kinder, die zu früh kommen, an den Anforderungen zerbrechen, weil sie einfach noch nicht so weit sind, sich auf diese Kompromissparty einzulassen, die ist um ein Vielfaches höher und die Folgen oft ein Kampf für alle Beteiligten.
Und darum leider die klare Antwort. Ja, eine zu frühe Einschulung ist kein Zuckerschlecken. Sie kann Schaden anrichten. Ich saß in erster Reihe dabei. Kann-Kinder können. Ich verstehe die elterliche Unsicherheit. Ich habe selbst zwei September-Exemplare zu Hause. Aber Kann-Kinder können...auch gut noch ein Jahr Unbeschwertheit genießen. Wachsen und reifen. Und dann etwas müheloser starten. Es ist kein Allgemeinrezept. Es gibt auch Raketenkinder. Aber im Zweifel ist Zeit meine Antwort.
Und nun?
In vielen Bundesländern liegt der Stichtag mittlerweile (wieder) auf dem 30.06. und da die Schule meist nach diesem Termin im Sommer wieder startet, sind dort viele Kinder einfach 6 Jahre alt. Und ja, jeder Monat ist kostbar. Darum wünsche ich mir von Herzen, dieser Stichtag wäre in allen Bundesländern die Norm. Denn für die betreffenden Kinder (und Eltern) kann er die Welt bedeuten. Petitionen laufen und ich kann nur dazu ermuntern, sie zu unterstützen.
Eine engere Verzahnung von KiTa und Schule wäre außerdem hilfreich. Und eine schulische Eingewöhnungszeit. Um diesen krassen Bruch aufzufangen und einen guten Übergang zu schaffen. Da sind uns andere Länder (again) voraus.
Tja und ganz eigentlich ist es das Schulsystem, das zu wenig Vielfalt zulässt. Das „zu“ schnell oder „zu“ langsam nicht toleriert. Das sich öffnen und ändern muss. Nicht die Kinder. Und nicht wir, die schweren Herzens an den kleinen Seelen herumdoktorn, damit sie irgendwie passen. Da wären wir beim Henne-Ei- Problem. Aber ich tue mein bestes, um die bequeme Henne ein wenig in Gang zu bringen.
Alles Liebe,
Saskia