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Manchmal lerne ich ein neues Wort und denke: Wie habe ich je ohne dieses Wort leben können? Gerade ist das „Workism". Workism beschreibt nämlich etwas, das mir schon länger Sorgen macht: Es ist der Glaube, dass Arbeit nicht mehr eine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der eigentlichen Identität. Geprägt wurde der Begriff vom Journalisten Derek Thompson, der letztes Jahr in der Zeitschrift „The Atlantic" darüber schrieb, dass immer mehr Leute ihre Erfüllung in der Arbeit suchen.
Als ich den Text las, dachte ich nach jedem Satz: Oh, das mache ich auch. Denn genau wie Thompson es beschreibt, bin ich mit dem Ideal aufgewachsen, dass es ein zentrales Ziel im Leben sein soll, einen Job zu finden, der weniger Lohnarbeit ist als vielmehr Selbstverwirklichung. Darum wollte ich Journalistin werden, und darum habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.
Besonders faszinierend an diesem Artikel fand ich, dass die bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, wie etwa John Maynard Keynes, schon vor achtzig Jahren prophezeiten, dass das Zeitalter der Selbstverwirklichung kommen werde – nur eben ganz anders. Sie glaubten, dass die Automatisierung der Arbeit so viel Freizeit schaffen werde, dass die Menschen ihren Fokus auf Hobbys und Freund*innen verlegen könnten. Aber stattdessen ist bedeutsame Arbeit zum Fetisch geworden, weil einige Workaholics (vor allem im Silicon Valley) ihren Job zu einer „Berufung" hochsterilisiert haben.
Laut Thompson wurde so ein Ideal geschaffen, das nun auf allen Ebenen der Gesellschaft zu Burn-outs und Ängsten führt. Denn: Die Gewinner des Systems (Architekt*innen, Startup-Gründer*innen...) arbeiten bis zum Umfallen, während alle anderen als „Verlierer*innen" dastehen, weil sie keinen dieser raren Selbstverwirklichungsjobs ergattern. Aber es gibt auch Gutes am Konzept von Workism. Oder zumindest war ich froh, endlich einen Begriff zu haben, der mir zeigt, bei was für einem Wahnsinn ich da eigentlich mitmache.
„Das Wort funktioniert wie ein Spiegel für das eigene Tun.“ -
Ich fühlte mich bei der Lektüre des Textes ja nur so ertappt, weil ich verstand, was hinter meinem Selbstverwirklichungsdrang steckt.
Also habe ich mir für dieses Jahr etwas vorgenommen. Ich möchte dem Modell von Workism etwas entgegenhalten und die Anteile meiner Identität mehr würdigen, die nichts mit meinem Job zu tun haben. Vor allem, wenn ich das nächste Mal verzweifle, weil etwas mit einem Text nicht klappt, will ich mir in Erinnerung rufen, was ich noch bin – außer Journalistin. Und das ist einiges. Ich bin zum Beispiel die mit der besten Großmutter der Welt, ich bin die Grüblerin, die seit fünfzehn Jahren die gleichen Pulp-Platten hört, ich bin die Frau, deren Wohnung aussieht wie eine Altpapiersammlung, ich bin die Freundin, die immer ein bisschen zu fest liebt, und vor allem bin ich das ewige Kind, das vor Freude ausflippt, wenn es eine Katze sieht.
Für alle, die jetzt gern noch mehr von Nina Kunz lesen möchten: Heute ist ihr Buch „
Ich denk, ich denk zu viel" mit 30 Texten zur Gegenwart im Kein & Aber-Verlag erschienen. Ich habe ihr Buch schon gelesen und mag es sehr, sehr gern.
Fotos – Goran Basic und Yves Bachmann