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„Ja, aber ich doch nicht“, denke ich, als ich mich durch die derzeitige Berichterstattung über das Thema Rassismus lese. Mit dem wohligen Gefühl, dass ich mir nichts habe zu Schulden kommen lassen. Verständnis ist schließlich mein zweiter Vorname. Aber wichtig, dass das Thema mal Fahrtwind kriegt, finde ich nicht nur als Mutter, sondern auch als Grundschullehrerin. Schließlich muss der Rest der Welt endlich mal aufwachen.
Und dann lese ich weiter. Und noch ein bisschen mehr. Und mein reines Gewissen wird immer kleinlauter und macht Platz für die unbequeme Erkenntnis – auch ich bin längst nicht „woke“, wach, wie es heißt, wenn einem als weißer Mensch klar ist, wie viel Rassismus es auf der Welt gibt. Tatsächlich habe ich sogar ziemlich verpennt.
Ich war schon irgendwie tolerant. Aber leider zu meinen eigenen Bedingungen. Ich habe sie oft passiert, die „Rassismusfreie Schule“-Schilder an Schulgebäuden.
Aber wenn man der Wahrheit ins Auge blicken will und sich trotzdem deutlich positionieren möchte, dann wären diese Schilder wohl die ehrlichere Variante: „Ja, bedauerlicherweise existiert auch an unserer Schule noch Rassismus. Wir können das nicht leugnen. Aber wir wollen ihn nicht mehr tolerieren und sind auf dem Weg, uns zu reflektieren und ihm die Stirn zu bieten.“
Apropos Ehrlichkeit ...
In meiner täglich stattfindenden Lesezeit habe ich meiner Klasse in den letzten drei Schuljahren genau nur zwei Bücher von Autor*innen mit Migrationshintergrund vorgelesen. Meine Wahl fiel tatsächlich in erster Linie auf deutsche Klassiker oder auf Bücher, die eben gerade so im Trend lagen. Und nebst einseitiger Autor*innen war auch inhaltlich zugegebenermaßen nicht viel Diversität zu finden.
Um unsere Lehrwerke steht es im Übrigen nicht besser. Es wird sich um Vielfalt bemüht, aber so wirkt es oft auch: bemüht. In unserer Fibel habe ich zwar immerhin Abbildungen von BIPoC (Black and Indigeneous People/Person(s) of Colour) finden können, aber sie waren doch sehr deutlich in der Unterzahl und auch keine der durchs Buch führenden Hauptfiguren. Auch in meinem derzeitigen Mathebuch sind alle Hauptfiguren weiß. An dieser Stelle könnte ich die Verantwortung wieder schnell von mir weisen. Ich drucke diese Lehrwerke ja nicht. Ich kann doch nichts für die Auswahl von Texten und Bildmaterial. Aber ich habe auch niemals die Initiative ergriffen und diesen Missstand an die jeweiligen Verlage zurückgemeldet. Schlimmer noch – mir ist die fehlende Diversität nur selten aufgefallen. Als wir uns vor ein paar Jahren für das jetzige Lehrwerk entschieden haben, habe ich das Kriterium der Vielfalt ehrlicherweise kaum im Blick gehabt.
Damit aber noch lange nicht genug.
„Selbst in meinen Unterricht haben sich diskriminierende Pauschalisierungen eingeschlichen.“ -
Mehrsprachigkeit war bisher nämlich häufig meine universelle Antwort auf Lernschwierigkeiten bei Kindern mit Migrationshintergrund. Dabei hatte ich weder theoretische Grundlagen im Hinterkopf noch eigene Spracherfahrungen zur Verfügung, die dieses pauschale Urteil so einfach zugelassen hätten. Tatsächlich zeigt mir ein genaueres Einlesen in die Thematik, dass diese Annahme schlichtweg nicht stimmt. In meinem Erfahrungshorizont aber erschien sie mir logisch: „Kein Wunder, dass Aliye die Textaufgaben so schwerfallen, zuhause wird ja nur türkisch gesprochen.“ Und muss mir jetzt eingestehen, dass ich bei einem Kind mit deutscher Muttersprache gleich in mehrere Richtungen überlegt hätte. Ich hätte schneller Anschauungshilfen gegeben, damit das Kind sein mathematisches Können unter Beweis stellen kann.
Und dann wäre da noch die Sache mit der Beurteilung der unterschiedlichen Sprachen. Wie faszinierend fand ich doch meinen Schüler, der neben seiner dänischen Muttersprache auch schon fließend Englisch sprach, bevor er in meine Klasse kam und mit dem Erlernen des Deutschen als seiner dritten Sprache begann. Befürchtete ich Schwierigkeiten? Kaum. Ich war beeindruckt und sah in dieser kompetenten Mehrsprachigkeit große Chancen. Dachte ich genauso euphorisch über Kinder mit beispielsweise türkischer Muttersprache? Die Antwort ist auch diesmal nicht rühmlich.
Und zum Schluss könnten wir ja nochmal einen Blick darauf werfen, wie häufig das Thema Rassismus selbst Lerngegenstand meines Unterrichtes ist. Es taucht im Lehrplan auf. Hier und da. Aber wenn wir ehrlich sind, sind das auch die ersten Themen, die man schiebt oder nur kurz anreißt, wenn es an Zeit für die „wichtigeren“, weil zu benotenden Themen- und Lerninhalte fehlt. #systemfehler
Das Zugeben ist schwer. Ach man, wie gerne würde ich, aber ... Wie gerne würde ich leugnen. Wie gerne würde ich mich rechtfertigen. Aber wer sich als weiße Person dem Thema Rassismus stellen möchte, muss eben auch diese verdammt unbequemen Gefühle und jede Menge Scham aushalten und bereit sein, eigenes Fehlverhalten einzusehen.
Was können wir Lehrer*innen also tun?
1. Informiert euch!
Vielleicht geht es vielen von euch so wie mir. Sich ertappt fühlen. Begreifen, was man alles nicht gewusst oder zu wenig hinterfragt hat. Schlimm genug, dass es so lange so war, aber spätestens ab jetzt darf Unwissenheit nie wieder als Ausrede gelten. Lest. Hört zu. Fragt betroffene Eltern oder Schüler*innen um Rat. Bücher wie „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters oder „Exit Racism“ von Tupoka Ogette sorgen für unzählige Aha-Momente.
2. Nehmt euch Zeit!
Wir brauchen Zeit, um mit Kindern über Rassismus zu sprechen. Um Konflikte nachhaltig aufzulösen. Nicht immer alles zwischen Tür und Angel. Aber das System macht es uns schwer. Wir hetzen unsere Schüler*innen von Thema zu Thema. Ich wünsche mir mehr Freiraum. Und so lange er von unseren Ministerien nicht kommt, müssen wir eben die Initiative ergreifen. Dann eben nicht über die Körperteile des Marienkäfers sprechen, sondern mal gemeinsam ins Federmäppchen gucken. Über Hautfarbestifte sprechen. Mal einen Konflikt in den Mittelpunkt stellen. Darüber sprechen, wie man reagieren kann. Sich Zeit nehmen, um Expert*innen in die Schulen zu holen. Sozialtraining auf den Stundenplan!
3. Respektiert Kinderstimmen!
Ein Ort, an dem sich Toleranz und Gleichberechtigung entfalten sollen, braucht nämlich Augenhöhe.
„Würden sich meine Schüler*innen trauen, mich auf Fehlverhalten hinzuweisen?“ -
Würden sich betroffene Kinder an mich wenden und Hilfe suchen? Wenn nicht, fehlt mir ein wichtiger Faktor für die Eindämmung und Bekämpfung von Rassismus an Schulen. Dann bleibt vieles einfach so stehen. Oder geht an mir vorbei.
Wenn wir wollen, dass Kinder und Jugendliche sich stark machen, dann müssen sie vom ersten Schultag an ihre Stimme als wertvoll erleben. Ich als Lehrkraft muss ihnen von Beginn an ein offenes Ohr vermitteln, sie Kritik üben lassen und auch in der Lage sein, mich zu entschuldigen.
4. Unterschiede zulassen!
In unserer Schulwelt dreht sich viel zu viel um das Angleichen. Alle sollen möglichst alles zur gleichen Zeit gleich gut können. Und wenn nicht, dann wird nach Wegen gesucht, dieses Level irgendwie herzustellen. Verbunden mit der ständigen Message: „Du bist nicht gleich. Und das ist ein Problem, dass wir beheben müssen.“ So meinen wir das nicht. Keine Lehrkraft mit Herz denkt so und dennoch werden uns seit unseres Studiums die wachsenden Unterschiede und die Heterogenität der Schüler*innen irgendwie eher als negative Herausforderung vermittelt, mit der man nun leider irgendwie umgehen muss. Und diese Sprache hat unser Denken geformt.
Lasst uns das ändern und Unterschiede endlich als Chance begreifen. Und sie auch zulassen. Nein, wir sind nicht alle gleich. Zum Glück. Wir müssen nicht alle dasselbe wissen, dasselbe können, nicht alle die gleiche Sprache sprechen, nicht alle die gleichen kulturellen Erfahrungen gemacht haben, wir müssen nicht alle gleich aussehen, um gut als Gruppe miteinander zu funktionieren. Ganz im Gegenteil. Es ist wunderbar, dass wir so unterschiedlich sind. Lasst uns den Wert von Einzigartigkeit vermitteln. „Toll, dass du was anderes kannst als ich. So können wir uns unterstützen.“
5. Mehr Diversität ins Schulpersonal!
2017 betrug der Anteil an Lehrkräften mit Migrationshintergrund an allgemeinbildenden Schulen insgesamt gerade einmal acht Prozent, an Grundschulen sogar nur vier Prozent. Ein Bildungssystem, das in großer Mehrheit von weißen privilegierten Menschen der Mittelschicht gestaltet wird, bietet leider auch viele Möglichkeiten für Rassismus. Weil wir aus einer anderen Lebenswirklichkeit heraus handeln. Und auch, wenn wir uns diesbezüglich gerade sehr reflektieren, brauchen wir Vielfalt und Austausch, um unser System nachhaltig offener und toleranter zu machen. Wir müssen uns also dringend darum bemühen, die Diversität im Schulpersonal (Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen, weitere Fachkräfte) zu erhöhen und uns auch fragen, warum das bisher nicht der Fall ist.
6. Bildet euch fort!
„Du Kakaofratze!“ Geschrei auf dem Flur. Sätze wie diese fallen tagtäglich. Scherzhaft dahingesagt oder angriffslustig ins Gesicht gebrüllt. Sie sind Gegenstand unserer Schulwelt. Was tust du als Lehrkraft, wenn du das siehst und hörst?
Wenn wir ehrlich sind, ist das Lösen von Konflikten oft eine deutliche Kompetenzlücke bei Lehrkräften. Bei mir jedenfalls war das lange so. Viele Konflikte, egal ob mit rassistischer oder anderer Motivation, viele Diskriminierungen und Beleidigungen finden ihren festen Platz an unseren Schulen, weil sie zu wenig bearbeitet werden. Wir Lehrkräfte schauen zu oft weg. Und das nicht, weil wir kein Interesse daran hätten, sondern schlichtweg aus Überforderung. Wir wissen nicht, was wir tun oder sagen sollen. Wir wissen nicht, wie wir helfen und klärend einschreiten können. Es ist nicht Teil unserer Ausbildung. Das gilt es zu ändern. Wir müssen Fortbildungen in diesem Bereich ganz weit oben auf die Tagesordnung setzen. Wir brauchen Handlungsstrategien und klare Leitlinien, die einheitlich im Kollegium abgesprochen und umgesetzt werden. Es muss klar sein, mit rassistischen Äußerungen kommt man an dieser Schule nicht weit.
7. Schafft gleiche Bildungschancen!
Zahlreiche Studien wie die des Instituts für Bildungsforschung der Universität Wuppertal belegen, dass Kinder mit Migrationshintergrund bei gleichen Leistungen schlechter bewertet und eingeschätzt werden.
Grund dafür sind unsere hartnäckigen Vorurteile. So wie ich, schauen wir oft sorgenvoll auf die Mehrsprachigkeit, meist ohne so richtig vertieft informiert zu sein. Wir nehmen viel an und wissen noch zu wenig. Und an dieser Stelle verweise ich an Punkt 1: „Informiert euch!“ Ich jedenfalls stelle bereits seit den wenigen Tagen meines Wachrüttlers fest, dass ich den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen nochmal viel positiver begegne. Das tut mir gut. Und auch den Kindern merklich. Ein Eindruck, der übrigens von den Erkenntnissen der oben genannten Studie wissenschaftlich gestützt wird.
8. Prüft euer Material und eure Lehrwerke!
Der Blick in meine Lehrwerke und in meine Klassenbücherei war ernüchternd. Es ist jetzt dringend an mir, das anzupassen. Gute Anhaltspunkte für passende diverse Bücher (z.B. als Klassenlektüre) gibt die Seite
buuu.ch
Ab heute ist Diversität wichtiges Auswahlkriterium für meine Unterrichtsmaterialien und ich werde mich auch nicht mehr scheuen, Verlage auf einseitige Darstellungen hinzuweisen.
9. Haltung zeigen – immer und ohne Ausreden
Laut der Berliner Antidiskriminierungsbeauftragten für Schulen Saraya Gomis gehen rassistische Diskriminierungen deutlich weniger von Mitschüler*innen aus, sondern meist von Lehrer*innen oder Erzieher*innen.
„Na ja, gut, das ist halt wieder deren andere Mentalität. Die verstehen das nicht.“ Morgens, halb zehn, in Deutschland – Sätze aus dem Lehrer*innenzimmer. Schnell dahingesagt stehen sie im Raum. Und jetzt gilt es, sich zu solidarisieren. „Ich sehe das anders.“ Vielleicht finde ich am Anfang noch nicht die treffenden Worte. Vielleicht überzeuge ich damit auch keine oder keinen meiner Kolleg*innen, aber ich habe mich positioniert. Ich habe diesem Satz eine hörbare Gegenstimme gegeben und gezeigt: „Ich dulde das nicht.“
Und für alle, die wie ich auch immer erst 30 Minuten später schlagfertig sind:
Die App
konterbunt.de gibt einem spielerisch die Möglichkeit, sein Bewusstsein für Parolen jeglicher Art zu schärfen, und trainiert gleichzeitig, was man diesen Äußerungen sinnvoll entgegensetzen kann.
Und was können die Eltern tun?
Bestärkt uns in unserer Themenauswahl. Unterstützt uns beim Auslassen der Marienkäferteilchen. Gebt sozialen Themen auch von eurer Seite Gewicht. Ja, auch wenn sie nicht benotet werden.
Redet mit uns. Euer Kind berichtet von Diskriminierungen, die uns entgehen? Bitte teilt uns das mit. Wir werden nie alles mitbekommen. Wir sind auf Rückmeldung angewiesen. (Und liebe Lehrkräfte, dann nicht angegriffen und bloßgestellt fühlen, sondern dankbar sein, dass wir nicht immer alles allein sehen müssen!)
Euch selbst fällt Ausgrenzung auf? Übernehmt Verantwortung. Gebt das an Elternsprecher*innen weiter. Thematisiert das auf Elternabenden. Sprecht für die, die nach jahrelangem Kampf keine Kraft mehr haben.
Beim Organisieren von Schulfesten einfach mal nur Speisen anbieten, die niemanden ausgrenzen. Und ja, das geht. Bei Allergien sind wir dazu ja auch bereit und finden durchaus wunderbare Alternativen.
Kümmert euch um eine gute Klassenelterngemeinschaft. Unterschiedliche Sprachen dürfen zum Beispiel keine bequem vorgeschobene Hürde sein. Aufeinander zugehen geht auch ohne viele Worte. Grenzt nicht aus WhatsApp-Gruppen aus. Versucht wichtige Informationen in den Gruppen übersetzen zu lassen.
Schaut kritisch auf die Diversität in Büchern, Serien, Filmen und Spielen, die ihr eurem Kind bereitstellt. Diverses Spielzeug findet ihr hier:
tebalou.de Und wenn ihr auf etwas Schönes stoßt, dann freuen wir uns über eine Empfehlung. Wir sind ein Team, ich kann es nicht oft genug sagen.
Achtet auf eure Sprache. Euer Kind erzählt von dem neuen Mitschüler Jamaal? Lasst eure erste Frage nicht sein: „Oh, wo kommt er denn her?“ Fragt lieber: „Und? Meinst du, er hatte einen schönen ersten Tag?“
Liebes Schulsystem, ich bin da. Spät. Aber ich bin da. Und ab jetzt, wenn ich ein Schulgebäude betrete, vorbei am „Rassismusfreie Schule“-Schild, werde ich dafür kämpfen, dass es jeden Tag ein bisschen mehr stimmt.
Fotos: Vidha Schröder / @liebe_im_quadrat