Diesen Text gibt es auch als Audio-Artikel. Zum Hören ans Ende des Artikels scrollen.
Vorab eine Anmerkung: Dies ist kein Text PRO oder CONTRA Stillen. Ich möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass jede Elternschaft individuell ist. Nur, weil etwas in einem Buch, in einer Studie oder auf Instagram steht oder auf dem Spielplatz erzählt wird, bedeutet das nicht, dass es für alle Mütter und Väter gilt. Fühlt euch hiermit bestärkt, mit eurem Kind einen eigenen Weg zu gehen – den, der sich für euch gut anfühlt.
Man kann nicht sagen, dass meine Tochter etwas mit der Muttermilch aufgesogen hätte. Ihre Milch kam nämlich aus der Tüte. Viereinhalb Monate gaukelte ich ihr vor, dass es anders sei. Ich erinnere mich an einen Moment, in dem ich oberkörperfrei in der Mitte unseres Sofas saß, mit meinem Kind auf dem Arm. Meine Schwiegermutter hielt das Stillhütchen auf meinem Busen fest, während mein Mann versuchte Ersatzmilch durch eine Sonde in den Plastiknippel zu spritzen. Meine Tochter sollte wirklich glauben, dass die Milch nicht aus der blauen Packung in der Küche, sondern aus meiner Brust stammte.
Mein Baby kam aufgrund einer Gebärmutteroperation in SSW36 durch einen geplanten Kaiserschnitt auf die Welt. Bei Frühgeburten kommt es oft zu sogenannten „Stillproblemen“. Kurz nach der OP schoss bei mir aber die Milch ein und ich schien bereit zu stillen. In der zweiten Nacht bekam ich von einer Stillberaterin immer wieder gezeigt, wie ich den 50 cm großen Wurm richtig anlege. Aber meine Tochter war noch zu klein, um kräftig zu saugen. Es kam zu wenig Milch. Sie verlor Gewicht. Jedes Gramm wurde akribisch in einer Tabelle festgehalten. „Jede Frau kann stillen“, sagte man mir, als ich fragte, ob es auch eine andere Lösung gäbe, wenn mein Kind Hunger hat. „Sie braucht nur Stillwillen.“ Ich merkte damals: Stillen ist ein unantastbares Heiligtum.
Der Druck wuchs. Jetzt musste ich als Mutter performen, damit mein Kind mehr von dem natürlichen Super-Cocktail bekommt, der es stark gegen Infekte, Infektionen, Asthma, Autoimmunerkrankungen und Allergien macht, ja sogar die Quoten des plötzlichen Kindstod mindert. Von der Darmreifung und einer guten Mutter-Kind-Beziehung ganz zu schweigen. Es gibt sogar Studien, die sich damit beschäftigen, dass gestillte Kinder intelligenter sind und sich psychomotorisch besser entwickeln. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Säuglinge in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen. Ich wagte es nicht, das anzuzweifeln.
Alle drei Stunden klingelte deshalb mein Wecker. Ich setze mich aufrecht, knipste eine Infrarotlichtlampe an und schloss beide Brüste an eine Doppelmilchpumpe. Man dürfe auf keinen Fall innerhalb der ersten zwei Wochen in die „Zufütterungsfalle“ tappen und dem Kind die Flasche geben, las ich in einem der drei Ratgeber, die auf meinem Nachttisch lagen. Mit der Milch sei es wie in der freien Marktwirtschaft: je größer die Nachfrage, desto größer das Angebot. Also immer wieder pumpen und anlegen, pumpen und anlegen. Ich sah dabei nicht so lässig aus wie die Hollywoodstars, die zwischen Event und Auftritt mal eben auf der Rückbank der Limousine oder im Backstagebereich abpumpen. Ich sah so aus:

An keiner Stelle war ausführlich davon die Rede, warum es mit der Milchproduktion – aus welchen Gründen auch immer – nicht klappen könnte und welche Pre-Milch infrage kommt. Im Gegenteil: Das Bild, das zwischen den Zeilen in all diesen Büchern vermittelt wurde, war: Eine gute Mutter stillt. Natürlich wollte auch ich mein Bestes geben.
Nach 30 Minuten stellte ich die Pumpe aus und blickte auf das Ergebnis: ein Schnapsglas voll Muttermilch. Meine Brustwarzen glühten, mein Kind brüllte. Und dann setze es ein: dieses Gefühl aus Unsicherheit und Unzulänglichkeit. Stelle ich mich blöd an? Verhungert mein Kind, weil ich mich nicht genug anstrenge? Warum klappt das nicht, verdammte Scheiße?
Ich hatte also auch ein „Stillproblem“.
„Nicht schon wieder ein Problem, dachte ich, dass mir das Gefühl gibt, nicht so zu funktionieren, wie ich es als Frau soll.“ -
Das war schon bei der
Kinderwunschbehandlung so, in der mein Alter, meine Eizellenreserve, die Dicke und Durchblutung der Gebärmutterschleimhaut beurteilt wurde.
Die Hebamme sah jeden Tag nach uns, übte geduldig weiter mit mir und dem Kind. Mein Mann kaufte Stilltee und Stillhütchen in allen Größen. Außerdem schleppte er Kästen mit alkoholfreiem Malzbier in unsere Wohnung, weil es die Milchproduktion anregen soll. Ich kippte die zuckrige Plörre in mich rein und hoffte, dass mein Körper in seinem gewohnten Umfeld endlich so arbeiten würde, wie er sollte. Ein Osteopath löste bei meiner Tochter eine Blockade im obersten Halswirbel – es konnte also nicht mehr an dem Kind liegen.
Ab diesem Zeitpunkt drehte sich nur noch alles um meine Brüste, wie viel Milch links und wie viel Milch rechts rauskam. Der Wecker klingelte, die Milchpumpe saugte und brummte. Das Ergebnis war jedes Mal enttäuschend. Vor allem die linke Brust gab kaum Milch. Von wegen: die Nachfrage regelt das Angebot. Es war wie in einer Wirtschaftskrise mit leeren Regalen. Florian ging in die Drogerie und kaufte Pre-Milch auf Vorrat. Inzwischen wusste jeder, der uns besuchen kam, wie meine Brüste aussahen, weil ich entweder an der Milchpumpe saß oder mein Kind an meiner nackten Brust durch die Wohnung trug, um den Spendereflex anzuregen.
Vor meiner jüngeren Schwester schämte ich mich nicht. Sie kam mit ihrer sechs Monate alten Tochter zu Besuch und spürte sofort, wie frustriert und müde ich war. Florian und ich fummelten wieder an der Konstruktion aus Sonde und Stillhütchen herum und wurden aufgrund des Schreiens unserer Tochter nervös.
„Meine Schwester fragte spontan: „Soll ich die Kleine mal stillen?““ -
Ich war irritiert. Meine Mutter als Gynäkologin und auch die Hebamme sagten, dass daran nichts auszusetzen wäre, weil meine Schwester gesund sei und keine Medikamente nähme. Die Hebamme erzählte sogar von Frauenmilchbanken und Milchküchen in Kinderklinken, an die Mütter ihre überflüssige Milch spenden können, statt sie einzufrieren oder wegzuschütten. Früher gab es überall diese Frauenmilchbanken, von denen die meisten in den Achtzigerjahren, u. a. aufgrund der Aids-Epidemie, geschlossen wurden. Jetzt kehren immer mehr Entbindungs- und Kinderintensivstationen auf der ganzen Welt zu diesem Modell zurück. Die
Frauenmilchbank Initiative e.V. (FMBI) setzt sich sogar dafür ein, dass bis 2023 in jedem Bundesland mindestens eine Muttermilchbank existiert, in der gespendete Frauenmilch pasteurisiert und weitergegeben wird. Zum Beispiel an Frühchen oder kranke Kinder.
Warum steht so etwas nicht in meinen Ratgebern?, fragte ich mich. Allein das Wissen, dass ich nicht die einzige Frau mit Stillproblemen (und bald keinem Bock mehr) war, hätte mir geholfen und erst recht die Information der Möglichkeit einer Muttermilchspende. Denn es kam dieser Moment: Meine Schwester schnappte sich mein Baby, setzte sich ohne Stillkissen oder Hütchen auf die Bettkante, zog ihr T-Shirt hoch und legte meine Tochter an ihre Brust. Mein Baby nuckelte friedlich, während meine Schwester liebevoll mit ihm sprach. Ich dagegen, die wieder an der Milchpumpe hing, heulte. Erst war ich gerührt, dann eine Sekunde lang eifersüchtig, weil ich so einen entspannten Stillmoment mit meinem Kind bis dato nie hatte. Mit dem nächsten Atemzug trat Erleichterung ein und sogar noch mehr: Das Gefühl einer wahren Schwesternschaft, in der wir uns zusammen um unsere Kinder kümmern und gegenseitig entlasten.
Was sich anfangs wie ein No Go anfühlte, war die beste Lösung für alle Beteiligten. Und so einfach.
„Nachdem meine Schwester abgereist war, sprang unsere Nachbarin ein, indem sie ihre Muttermilch abpumpte und mir die Flasche über den Flur reichte.“ -
Bald hatten wir einen guten Vorrat aus eingefrorener Muttermilch und Pre-Milch. Meine Tochter gedieh prächtig. Ich war sowohl meiner Schwester als auch der Nachbarin unendlich dankbar, wagte aber nicht laut diese Frage zu stellen: Haben andere Frauen das schon mal gemacht?
Meine Antwort bekam ich etwa ein Jahr später, als das Bild der Polizistin Celeste Ayala viral ging, die während ihres Dienstes in einem Krankenhaus in Argentinien ein fremdes Baby gestillt hatte, das völlig unterernährt und verwahrlost war. „Ich habe nicht eine Sekunde gezögert“, sagte Ayala, selbst Mutter von zwei Kindern. Sie wurde für ihre Heldinnentat befördert.
Als Mutter mit Stillproblemen fühlte ich mich dagegen in der Öffentlichkeit lange allein. Ich log sogar. Im Pekip-Kurs saß ich in einer Runde mit Frauen, die alle ihre schönen, großen Brüste auspackten und ihre Kinder so selbstverständlich stillten, wie es für jede*n, der stillen möchte, sein soll. Ich dagegen holte die Milchflasche aus meinem Rucksack und merkte wie sich der Kopf der Frau neben mir wie ein Panzergeschoss zu mir drehte: „Ach, Du stillst nicht?“, fragte sie. „Das Stillen klappt nicht immer so gut, deshalb heute ausnahmsweise die Flasche“, antwortete ich zerknirscht. „Wie schade für deine Tochter.“ Die Abwertung durch eine andere Mutter, weil ich etwas abseits der Norm tat, verletze mich. Ich schämte mich und wollte nicht als Rabenmutter gelten.
Zu gerne hätte ich damals andere Eltern mit ähnlichen oder ganz anderen Stillproblemen gehört und ein Buch wie den aktuellen SPIEGEL-Beststeller "Das Unwohlsein der modernen Mutter" von Mareice Kaiser gelesen. Darin stehen viele Denkanstöße über unser konservatives Bild der stillenden Frau und wie damit nicht nur medizinische oder berufliche Gründe abseits des Ideals, sondern auch heutige Familienkonstellationen ignoriert werden. „Der Hype um das Stillen sorgt auch dafür, dass queere und andere Familienkonzepte marginalisiert werden. Stillen ist Liebe – soll das also bedeuten, ein schwules Elternpaar kann seinem Kind keine Liebe geben? Was bedeutet das für Pflege- und Adoptivfamilien? Stillen ist Liebe? Ich würde sagen, Stillen ist Stillen“, schreibt Kaiser.
Und davon hatte ich die Schnauze voll. Nach vier Monaten "Mindeststilldauer" zog ich ohne Rücksprache mit dem Kinderarzt, der Hebamme oder WHO, der Milchpumpe den Stecker. Florian und ich servierten unserem Kind gemeinsam nur noch das Ersatzprodukt und Beikost. Vielleicht hätte ich in diesem Moment stärker für mein Kind sein müssen, aber meine Nerven reichten nur noch zum Wasser kochen.
Wir waren erleichtert. Endlich konnten wir unser Glück in Ruhe genießen, ohne dabei an die Milchpumpe zu denken. Beim nächsten Pekip-Kurs stellte ich die Pulle meiner Tochter demonstrativ neben meine Matte. Der einzige an dem Kurs teilnehmende Vater sah das, kramte in seiner Tasche und stellte seine Milchflasche ebenfalls neben seine Matte. Ich hätte ihn küssen können.
Die Akzeptanz der anderen Mütter gegenüber meiner Entscheidung nicht mehr zu stillen wuchs, nachdem ich in der Vorstellungsrunde meine Geschichte erzählte: Noch vor der Geburt meines Kindes starb meine Schwägerin an einer akuten myeloische Leukämie. Ich fühlte mich insgeheim während meiner gesamten Schwangerschaft schuldig, dass ich neues Leben in mir trug, während mein Bruder und seine drei Kinder trauerten. Ich unterdrückte die Trauer aufgrund der Angst vor einer weiteren Fehlgeburt. Was nach der Geburt auf mich zu kommt, habe ich ausgeblendet. Im Wochenbett hat mich dann nicht nur die Freude über mein Wunschkind, sondern der Kummer überrannt. (Nebenbei haben wir auch noch ein Haus gekauft, aber das ist eine
andere Geschichte.)
Nach und nach rückte jede der Frauen aus dem Kurs mit ihrer Schwangerschafts- und Geburtsgeschichte raus. Von 15 Stories war keine Erfahrung gleich. Die einen berichteten von schönen Erlebnissen, viele andere hatten so wie ich Traumata erfahren. Mein Selbstbewusstsein, als Mutter die richtige Entscheidung für mich und mein Kind getroffen zu haben, wuchs. Tatsächlich stillen nur 68 Prozent der Mütter ihr Kind nach der Geburt ausschließlich. In den folgenden Monaten sinkt die Zahl deutlich, wie die
KiGGS, eine Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, berichtet. Nach zwei Monaten sind es 57 Prozent und nach vier Monaten sind es nur noch 40 Prozent.
Doch warum wollen uns Medien und Expert*innen unbedingt glauben lassen, dass alle Mütter mindestens ein Jahr oder länger stillen? „Bei dem Diskurs rund um das Thema Stillen geht es nicht nur um das Stillen, es geht auch um Macht“, schreibt Mareice Kaiser in ihrem Buch. „Was vielen dabei nicht bewusst ist: Der Hype um das Stillen weist Müttern einen Platz zu. Einen Platz, den sie gemeinsam mit ihrem Kind besetzen dürfen. Einen Platz, an dem sie ruhig sind und die Klappe halten. Einen stillen Platz. Und während sie dort sitzen und die Klappe halten, verändern sich ihre Beziehungen. Stillen manifestiert nicht gleichberechtigte Partner*innenschaften.“
Die Autorin erinnert auch daran, dass Stillen ein Privileg ist, dass sich Frauen leisten können müssen. In den USA stillen 86 Prozent der weißen Mütter, aber nur 69 Prozent aller Schwarzen Mütter. Auch in Deutschland werden Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen seltener und kürzer gestillt.
Meine Tochter genießt ein privilegiertes Leben und war trotzdem ein Flaschenkind. Meine Entscheidung abzustillen war unbewusst feministisch. Es war ein Akt der Selbstfürsorge, von dem auch mein Kind profitiert hat. „Happy mama, happy baby“ sagt man doch. Inzwischen ist meine Tochter vier Jahre alt. Sie hat keine Allergien und ist auch sonst nicht irgendwie auffällig. Unsere Mutter-Kind-Beziehung ist innig. Denn nicht nur Stillen ist Liebe, sondern auch Küssen, Kuscheln, Abholen, Begleiten, Baden, Vorlesen, Spielen, Erklären, Trösten, Beschützen - eben alles, was man als Eltern noch so jeden Tag macht.
Aufmacherfoto: Caro Evers
Die Audiodatei gibt es hier zum
Download.