Wenn du diesen Artikel liest, hast du schon viel geschafft: Du stellst dich deiner Scham, doch nicht so viel zum Thema Rassismus zu wissen, wie du immer dachtest. Das habe ich auch hinter mir. Und damit tun wir etwas, das schon längst fällig gewesen wäre, aber immerhin jetzt geschieht.
Jetzt wird’s aber noch mal unangenehm: Wenn ich eins in den letzten Woche begriffen habe, dann – wir müssen uns als weiße, privilegierte Menschen endlich unsere Abwehrmechanismen zum Thema Rassismus anschauen. Die Scham und das schlechte Gewissen aushalten und unsere Kartons packen, um endlich aus unserem Happyland auszuziehen. Den Ort verlassen, an dem wir wohnen, bevor wir uns wirklich bewusst mit Rassismus beschäftigen. Und keine Sorge, das heißt nicht, dass wir für den Rest unseres Lebens unhappy sein müssen. Aber es heißt, dass wir uns unangenehmen Hausaufgaben stellen müssen:
Der Begriff Happyland stammt von einem Teilnehmer aus einem Workshop der Antidiskriminierungstrainerin und „Excit Racism“-Autorin Tupoka Ogette: „Frau Ogette, ich habe das Gefühl, vierzig Jahre meines Lebens im ‚Happyland‘ gelebt zu haben“, sagte der Manager eines großen Kommunikationsunternehmens am Ende ihres Workshops. „Und Sie haben mich jetzt da rausgeschubst. Es fühlt sich an, als wäre ein Tornado durch meinen Kopf geweht.“
Wer anfängt, sich wirklich mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen und seine Selbstverteidigung („Ich bin kein Rassist!“, „Ich hab doch Schwarze Freunde/Verwandte“, „Ich stell nicht so bekloppte Fragen wie ‚Woher kommst du?‘ etc.) zur Seite legt, wird verschiedene emotionale Phasen durchlaufen. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Tupoka Ogette stellt in ihrem Buch „Excit Racism“ fünf Phasen vor, durch die alle gehen, die wirklich nachhaltig rassismuskritisch denken lernen wollen. Die Sätze in Klammern haben mir gezeigt, auch bei mir gibt es noch Umzugskartons zu packen:
- Das Happyland („Dir ist es viel wichtiger, als nicht rassistisch angesehen zu werden, als dich tatsächlich auf ein Gespräch über Rassismus einzulassen.“)
- Die Abwehr („Du hast überhaupt nicht das Gefühl, dass Rassismus irgendetwas mit dir zu tun hat, deine Ablehnung von Rassismus muss reichen.“)
- Die Scham („Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du erkennst, dass du bestimmte Situationen, Zustände, Dinge nicht mitbekommen hast.“)
- Die Schuld („Du erinnerst dich an Momente und Situationen, in denen du rassistisch agiert hast oder Rassismus nicht sehen wolltest, und du fühlst dich dafür schuldig.“)
- Die Anerkennung („Du hast erkannt, an welchen Stellen Rassismus ein System und keine individuelle schlechte Tat ist und dass die Anerkennung dieses Systems und deiner Positionierung innerhalb dieses Systems ein wichtiger Teil und dein Beitrag dafür sind, Rassismus als System zu dekonstruieren.“)
Tupoka Ogettes Buch ist im Juli 2019 im Unrast-Verlag erschienen und mein schlechtes Gewissen und ich können uns nicht erklären, warum ich es nicht sofort nach Erscheinen gelesen habe, sondern erst jetzt. Für mich ist es ein Buch, das einem erklärt, dass es nicht um Vorwürfe geht, sondern darum: endlich zu verstehen. Es gibt einen strukturellen Rassismus weltweit, nicht nur in Amerika, auch in Deutschland, auf der ganzen Welt und den können wir nur gemeinsam aufbrechen. Oder wie Meghan Markle es vergangene Woche in ihrer Rede an die Absolventen der Immaculate Heart High School sagte: „I am so sorry that you have to grow up in a world where this is still present. (...) That we have not gotten the world to the place that you deserve it to be. (...) We are going to rebuild and rebuild and rebuild until it is rebuilt.“
Eine schwarze Kachel im Instagram-Feed am #blackouttuesday nach der Ermordung von George Floyd durch amerikanische Polizisten gepostet zu haben ist ein Anfang, wenn es nicht nur ein „Sure shot für likes“ war, wie Jasmina Kuhnke es in ihrem Instagram-Kanal quattromilf nannte und deshalb keinen postete. Büchertipps zum Thema Rassismus weitergegeben zu haben oder Empfehlungen, welchen Aktivisten man jetzt folgen sollte – ja, auch gut, habe ich auch gemacht, aber wir müssen die Bücher auch selbst lesen und noch wichtiger: umsetzen, was darin steht, und nachhaltig umdenken.
Wir müssen nicht nur aus dem Happyland ausziehen, sondern draußen in der neuen Welt unsere Hausaufgaben machen. Nicht auf Schwarze Menschen und People of Colour die Bildungsarbeit abwälzen, sondern so schnell wie möglich nachholen, was wir verpasst haben, auf unsere Sprache achten (Lesetipp: Kübra Gümüsays Buch „Sprache und Sein“), Begriffe parat haben (hier gibt’s eine Übersicht von Tarik Tesfu), uns kontinuierlich informieren und denen, die diskriminiert werden, zur Seite stehen. Und, wenn nötig und von ihnen gewollt, uns sogar vor sie stellen.
Ich schreibe extra „wir“, weil auch ich wie erwähnt mich überprüfen und viel dazulernen muss, und ich weiß, dass dieses Thema nicht nur dich und mich, sondern auch viele meiner Freunde, meine Familie – einfach sehr viele Menschen betrifft. Vor allem die, die denken: „Ich? Rassist? Niemals!“ Auch die, die wie wir Schwarze Freunde oder auch POC-Familienangehörige haben. „Ich weiß noch, wie deine Cousine N. aus Venezuela als Zweijährige zu Besuch war, sie bei uns im Dorf angestarrt wurde und mich alle paar Meter jemand fragte, ob man sie mal anfassen dürfe“, erzählte mir meine Mutter gestern. Was meine Mutter natürlich lautstark verneinte und das verängstigte Kind nach Hause brachte. Das war Anfang der Achtziger. Nur zwei Jahrzehnte früher, genauer im Jahr 1958, gab es aber tatsächlich genau das noch: einen Human Zoo auf der Messe in Brüssel. Es wurden Menschen aus dem Kongo ausgestellt in Gehegen, damit Weiße sie sich anschauen konnten. Das war keine Seltenheit im Westen, schreibt der Guardian, noch etwas früher gab es das Gleiche in London, Paris, Oslo und, da wird mir noch mal extraübel: in Hamburg.
Warum habe ich mich, obwohl mir das Thema sogar familiär so nah ist, nicht noch detaillierter damit beschäftigt? Warum muss ich gerade – wie viele andere auch – peinlich berührt dazulernen, dass wir (ungewollt) Rassismus reproduzieren mit Sätzen wie „Ich mache keine Unterschiede, für mich sind alle Menschen gleich“. Das ist vielleicht nett gemeint, wird aber vollkommen zu Recht wahrgenommen als Leugnen von Rassismus. Als würden wir nicht sehen wollen, den Alltagsrassismus, die Lebensrealität der Betroffenen.
„„Solche Aussagen zeigen, was für ein Privileg es ist, als weißer Mensch durchs Leben zu hüpfen“,“ -
schreibt Tarik Tesfu auf Vogue.de. Und weiter: „Wenn ich in einem Zug als einzige Person von Polizist*innen nach meinem Ausweis gefragt werde, dann ist das Racial Profiling (eigentlich in Deutschland verboten) und eine Form von strukturellem Rassismus. Weil ich eben nicht kontrolliert werde, weil ich mich daneben benommen habe, denn meistens schaue ich vorher einfach nur aus dem Fenster, sondern weil davon ausgegangen wird (und das von einer staatlichen Instanz), dass ich aufgrund meiner Hautfarbe illegal in Deutschland bin oder Drogen im Portemonnaie haben könnte. Was man halt so macht, wenn man Schwarz ist.“
„Wir brauchen eure Unterstützung“, sagt die Aktivistin und Grünen-Politikerin Aminata Touré in ihren Instagram-Storys diese Woche. „Ihr müsst euch, auch wenn ihr nicht von Rassismus betroffen seid, verdammt noch mal positionieren. Auch in den Situationen, in denen keine People of Colour-Person anwesend ist, aber der Onkel oder eine Kollegin was raushaut. (...) Damit wir die Arbeit nicht alleine machen müssen.“
Was mir auch jetzt noch mal richtig bewusst geworden ist: Egal wie müde wir aktuell von unserem eigenen Leben sind. K.o. von den letzten Wochen, der zusätzlichen Belastung in der Coronakrise – was auch immer. Es gibt keine Ausreden, sich jetzt nicht zu positionieren und zu überlegen, wie wir nachhaltig etwas verändern können. In unseren eigenen Familien, Freundeskreisen, dem großen Ganzen. Weil: Natürlich haben wir unseren gefühlt eh schon so vollen und anstrengenden Alltag und unsere eigenen großen Themen, aber unser Alltag ist immer noch um einiges einfacher dank weißer Privilegien, weil wir nicht wie Aminata Touré, Tupoka Ogette, Tarik Tesfu und so viele andere täglich von Andersdenkenden beschimpft und bedroht werden. Weil wir uns nicht um unsere Sicherheit und die unserer Kinder fürchten müssen, weil wir nicht unter Alltagsrassismus und Traumata zu dem Thema leiden – unter Racial-Stress. Unsere Kinder müssen nicht wie der Sohn von Tsepo Bollwinkel, der genau wie mein Sohn in Deutschland geboren ist und Deutsch als Muttersprache spricht, einen „Deutsch als Zweitsprache“-Test machen, wie ich in „Exit Racism“ lernte. Das ist, so lautet auch die familieninterne Bewertung bei Bollwinkels: „Rassistische Kackscheiße“.
Zu Recht gibt es Buchtitel wie „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters und „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“ von Reni Eddo-Lodge. Weil sie müde sind, unsere Erklärbären zu sein.
„Unsere Erwartung kann nicht sein, alles mundgerecht angereicht zu bekommen.“ -
Es ist alles da, wir können es uns selbst raussuchen, lesen und verstehen. Es sind jetzt unsere Hausaufgaben, die wir uns eigenständig anschauen und erledigen müssen. Das habe ich jetzt auch noch mal richtig begriffen.
Auch unser Redaktionsteam für OhhhMhhh.de ist in einem großen Lernprozess aktuell, obwohl wir bereits regelmäßig Schwarze Frauen und Männer und People of Colour vorstellen, sei es der Podcast mit Aminata Belli im Abo Mitte 2019, Chris Glass bei Endlich Om Anfang 2019, die Tipps von Alice Hasters im Abo, Aminata Touré aufm Blog und bei Instagram , „When they see us“-Regisseurin Ava DuVernay, die Bücher von Chimamanda Ngozi und viele weitere Geschichten. Doch das reicht noch nicht. Es gibt noch mehr zu tun als das. Das haben mir die letzten zwei Wochen deutlich gezeigt.
Zum einen möchte und muss ich unser eigenes Redaktionsteam noch deutlich diverser gestalten, wie ich es bereits Ende 2019 in einem Blogpost als eins meiner Ziele für 2020 definiert hatte, zum anderen auch noch deutlicher in der Öffentlichkeit für Diversität und Antidiskriminierung stehen. Da gibt es für mich viel nachzuholen.
Ich finde, Thisisjanewayne.com macht das seit längerem fantastisch mit der großartigen Autorin Fabienne Sand, genau wie Vogue Online, seitdem Alexandra Bondi de Antoni verantwortlich ist und für mehr Diversität sorgt. Da können wir uns noch viel abgucken und vor allem werde ich mich aktiv auf die Suche nach einer so starken Stimme machen für OhhhMhhh.de und mich gleichzeitig selbstkritisch fragen, warum sie sich bei unseren offenen Stellen bisher noch nicht beworben hat. Habe ich mich doch früher als Redakteurin bei diversen Zeitschriften über meine Chefs aufgeregt, die Schwarzen Frauen keine Titelstorys geben wollten, weil sich das nicht verkaufen würde. Über genau das Thema habe ich auch mit Aminata Belli im Podcast gesprochen, die in Redaktionen genau das Gleiche erlebte. Ich habe Magazine und Marken belächelt, die sich sogenannte Token (Quotenschwarze für die Wannabe-Diversity) ins Team geholt haben, und beschlossen: So will ich das nicht, habe aber dann irgendwie verpennt, für OhhhMhhh.de eine andere Lösung zu finden. Was mir sehr unangenehm ist.
Ich bin jetzt dran, wir sind dran und genau deshalb war es hier diese Woche so ruhig: Ich wollte endlich anfangen zu verstehen, was in meiner eigenen Denke und bei so vielen schiefläuft und wie wir das schnellstmöglich begradigen können. Ich habe den internationalen Aufruf „Still and muted“, den Ansatz, zuzuhören, sich eigenständig weiterzubilden, ernst genommen. Wir haben viel gelesen, von Rassismus betroffene Freunde und Verwandte angerufen und noch mehr solcher Geschichten gehört. Unsere Abonnentin und Maries Nachbarin Sofia Hiestermann erzählte: „Ich war auf einer Hochzeit eingeladen und die Tante der Braut meinte zu mir: ‚Oh, wo kommt so etwas Schönes wie du bloß her? Von einem Flüchtlingsboot?‘ Das hat sie zu mir vor vielen anderen Leuten gesagt. Ich war geschockt in diesem Moment und so perplex, dass ich nichts antworten konnte. Ich würde mir wünschen, dass andere dann auch aufstehen, wenn sie solche rassistischen Äußerungen wahrnehmen. Das müssen wir als Gesellschaft tun und für einander einstehen.“
Wer sich fragt: Wie kann ich in solchen Momenten lernen zu widersprechen und andere zu unterstützen – dazu habe ich dieses Jahr, nur zur Erinnerung, mit „Anleitung zum Widerspruch“-Autorin Franzi von Kempis eine Podcastfolge aufgenommen. Mit dem Philosophen Philipp Hübl habe ich im Endlich Om-Podcast auch über das Thema, dass in allen von uns Rassismus steckt, gesprochen. Doch war das noch nicht on point genug.
Die diskriminierenden Geschichten von Sofia, Aminata Belli, Chris Glass, von meiner Cousine – es gibt unendlich viele dieser Art, die nicht irgendwo weit weg passieren, sondern hier in Deutschland, auch noch im Jahr 2020. Eigentlich sollte das Thema der ARD eine Brennpunkt-Folge wert sein, verkündete Comedian Carolin Kebekus diese Woche. Da aber keine stattfand, nahm sie einfach selbst einen Beitrag auf mit diversen Betroffenen – im „ersten deutschen Weißen Fernsehen“. Sehr sehenswert.
Weil die TV-Sendung „Maischberger“ zuerst eine Diskussionsrunde über Rassismus plante ohne eine einzige Schwarze oder POC-Person aus Deutschland als Gast (und im letzten Moment noch Germanistik-Professorin Priscilla Layne aus Amerika zuschaltete), gründeten die beiden Moderatorinnen Aminata Belli und Hadnet Tesfai ihre eigene Instagram-Sendung namens „Sitzplatzreservierung“ und hatten bereits beachtliche Einschaltquoten.
Es ist alles da. Unter anderem auf Thisisjanewayne.com findet ihr Zusammenfassungen vieler wichtiger Artikel zum Thema, Aktivistinnen, denen man folgen sollte, Bücher, die man lesen sollte als Erwachsene, für Kinder. Jetzt ist es an uns, uns damit detailliert zu beschäftigen.
Dieser Artikel ist für mich erst der Anfang. Ich bin dran, meine langfristigen Vorsätze umzusetzen. Ich werde Fehler machen, ich habe schon vorher Fehler gemacht, für die ich mich schäme, und ganz bestimmt sitzt, obwohl ich mir große Mühe gebe, auch nicht jede Formulierung und Wortwahl in diesem Artikel. Wir alle werden Fehler machen, während wir dazulernen, aber das sagte Meghan Markle auch so gut: „The only wrong thing to say is to say nothing. (...) Always remember to put others needs above your own fears.“
Und auch wenn wir uns auf OhhhMhhh.de in den nächsten Tagen jetzt neben dem Rassismusthema auch wieder anderen Themen widmen, heißt das nicht, dass wir alle Vorsätze vergessen haben, die bleiben uns ab jetzt stets im Kopf. Wir überprüfen unsere Arbeit jetzt täglich noch stärker auf Diversität und bleiben dran an unseren Zielen. Wir werden beweisen, dass wir es ernst meinen.
2020 ist das Jahr des Dazulernens in ganz vielen Bereichen. Das macht müde, das ist anstrengend, das nervt, aber eins kann ich jetzt schon versprechen: Es wird sich lohnen. Und wie immer werden wir, wenn wir uns schambehafteten Themen stellen, am Ende mit einem guten Gefühl der Klärung und eigenem Wachstum belohnt. Was aber noch viel wichtiger ist: Wir werden endlich verstanden mit dem, was wir wirklich sagen und wer wir sein wollen. Es ist (wieder) klar, wofür wir stehen. Sicher werden wir nie ganz verstehen, was Schwarze und People of Colour – alle, die diskriminiert werden – durchmachen, aber das darf nicht heißen, dass wir nicht versuchen, es zu verstehen und ihnen gut informiert beizustehen.
Ich muss ganz oft an das Plakat einer Wienerin bei der Demo am 4. Juni 2020 denken, darauf stand: I understand, that I’ll never understand, but I stand.